ASANA - Die Kunst des Sitzens -2

24.06.2014

 

ASANA – Die Kunst des Sitzens -2

 

Im zweiten Teil dieses kleinen Beitrags über ASANA möchte ich auf etwas zu sprechen kommen, das ich gerne den „inneren Aspekt des Sitzens“ nenne. Dieser innere Aspekt ist die höhere Dimension und damit das eigentlich Relevante des Asana. Es ist das, was uns tief nach innen, dem eigentlichen Ziel unseres Yoga, entgegen führt.

Zunächst einmal ist Nachfolgendes völlig korrekt: Ich kann jeden Asana zur körperlichen Gesundung und Entspannung anwenden bzw. praktizieren. Die zweckdienliche Verwendung eines Asanas in dieser Weise ist absolut sinnvoll und in Ordnung, denn wir wollen alle gesund sein und bleiben. Doch, ist das alles? Ist damit alles über den Sinn und Zweck von Asana erzählt? Nein! Das ist bei weitem nicht die ganze Geschichte.

Es gibt eine im Yoga bekannte Metapher bzw. Allegorie, die den Umstand, um den es mir hier geht sehr deutlich macht. Es wird Folgendes gesagt:

Auch der Kranich praktiziert Yoga. Auch der Kranich meditiert. Er steht stundenlang im flachen Wasser, vollkommen bewegungslos. Er ist absolut konzentriert. In gewisser Weise handelt er also wie ein Yogi – zumindest äußerlich. Er meditiert – allerdings auf Fisch. Und das ist es, was er am Ende auch erhält.

Die Quintessenz hiervon lautet also: Du bekommst immer das, wonach du strebst, worauf Du Dich ausrichtest. Rein äußerlich betrachtet, mögen dabei zwei das Gleiche tun – und doch ist ihr Ziel und das Ergebnis ein vollkommen anderes. Yogi und Kranich, beide sind konzentriert, beide meditieren. Der eine ist nach innen, der andere nach außen ausgerichtet. Der Kranich erhält Fisch. Der Yogi hingegen erhält die höchste Vollkommenheit, die unmittelbare Erkenntnis seiner wahren, göttlichen Natur. Was werden wir erhalten durch das Praktizieren von Asana? Gehen wir den Weg des Kranichs oder den des Yogis?

Wie es scheint, ist auch hierbei das Ergebnis von unserer jeweiligen Intention abhängig. Bei allem, was wir tun in unserem Leben – und gerade, wenn wir Yoga praktizieren sollten wir uns das immer wieder ins Gedächtnis rufen – kommt es nicht so sehr darauf an was wir tun, sondern wie wir es tun, also mit welcher inneren Haltung. Auch das ist ein Aspekt, den wir uns im Zusammenhang mit Asana einmal näher betrachten sollten: „Haltung“ – eine der möglichen Übersetzungen für das Sanskrit-Wort Asana – bezieht sich sowohl auf etwas Inneres als auch etwas Äußeres.

Doch schauen wir uns zunächst einmal das historisch-kulturelle Umfeld des „Sitzens“ im Kontext indischer Spiritualität, Weisheit und Philosophie näher an. Oder formulieren wir es als Frage: Kommt denn das „Sitzen“ im Zusammenhang mit der Suche nach Erkenntnis/Befreiung/Erleuchtung noch in anderen Traditionen, als dem Yoga, vor? Die Antwort lautet eindeutig: Ja – und zwar nicht eben selten. Das Sitzen und die höhere Erkenntnis oder das innere Erwachen stehen häufig in einem sehr engen, um nicht zu sagen unmittelbaren, Zusammenhang.

In den alten spirituellen Werken Indiens ist davon die Rede, dass die Weisen, wann immer sie ein „Problem“ zu bewältigen hatten, sich niedersetzten, die Augen schlossen und nach innen gingen. Durch diese kleine Übung des Sitzens oder Hinsetzens veränderte sich ihr Blickwinkel – von außen nach innen. Es stellte sich rasch ein inneres Erwachen ein, der Zugang zum inneren Selbst. Nun waren sie in der Lage, die Antwort auf ihre Frage im Inneren – aus der Quelle der absoluten Erkenntnis – aufzunehmen.

Noch ein Beispiel: Die Upanishaden sind das Ende – auch im Sinne von „Vollendung“ – der uralten indischen Veden. Deshalb werden sie auch Vedanta genannt, von Sanskrit Veda (Wissen) + Anta (Ende). Der Begriff Upanishad, mit dem die wohl beeindruckendsten Weisheitstexte der Menschheit bezeichnet werden, ist für uns in diesem Zusammenhang höchst interessant. Vorausgesetzt, wir betrachten ihn uns  näher oder nehmen ihn sogar auseinander. Upanishad setzt sich zusammen aus upa – ni – shad. Das bedeutet wörtlich: um-herum – nieder – setzen. Es beschreibt also exakt die traditionelle Situation eines Schülers zur damaligen Zeit, der sich in die unmittelbare Nähe des Meisters oder der Meisterin setzt, um die Worte der Wahrheit, Weisheit und Segenskraft zu vernehmen. Also auch hier haben wir einen direkten Zusammenhang zwischen dem Sitzen und der inneren, spirituellen Erkenntnis und  Erfahrung.

Ein weiteres Beispiel für das Zusammenwirken von Sitzen und innerer Erfahrung, ist uns aus dem Buddhismus geläufig. In der buddhistischen Tradition des Zen bezeichnet Zazen das „Sitzen in Meditation“ (japanisch wörtlich: Sitzmeditation). Ursprünglich stammte die Lehre des Zen aus China und war dort unter der Bezeichnung Chan bekannt. Und wie der Zufall es will, ist Chan abgeleitet von dem Sanskrit-Wort Dhyana – das uns allen vertraut ist als der klassische Yoga-Begriff für „Meditation“ oder „meditative Versenkung“. In der buddhistischen Tradition des Zazen sitzt man – betont aufrecht und in sich selbst ruhender Körperhaltung, dabei ohne jede Erwartung – so wie Buddha viele Jahre unter dem Bodhi-Baum gesessen haben soll und schlussendlich den Zustand des vollkommenen Erwachens (Bodhi) erlangte. Im Übrigen halte ich es nicht für einen Zufall, dass Buddha zur Unterstützung seiner Sadhana am Fuße eines Baumes – ob Dichtung oder Wahrheit sei dahin gestellt – saß. Denn wer oder was „sitzt“ schon beharrlicher und kraftvoller als ein Baum? Vrikshasana – eine Übung, die ich besonders gerne im Kinder-Yoga mache – lässt grüßen.

Sitzen – Asana – ist folglich doch mehr, als nur einfach dasitzen bzw. eine Körperübung vollziehen. Es geht bei Asana um eine ganz und gar bewusste Körper- und Geistes-Haltung – einer Übung oder Praxis mit einer äußeren und einer inneren Haltung. Verwenden wir das Wort „Haltung“ in dieser zweifachen Weise, ohne groß darüber nach zu denken, nicht alltäglich? Und ist es uns nicht durch Ereignisse im alltäglichen Leben klar, dass es bei allem, was wir tun, sehr stark auf die innere Haltung ankommt? Wenn dem so ist, was nutzt eine ästhetische und korrekte äußere Haltung – auch und gerade beim Asana – wenn es dabei an der erforderlichen und angemessenen inneren Haltung mangelt? Ohne die Verbindung zum Inneren bleibt alles, was wir tun, nur eine äußere Geste.

Wie wir also sehen, ist das Sitzen nach Auffassung vieler Traditionen dieser Welt die Grundlage unseres spirituellen Wachsens. Gerade im Yoga ist das Sitzen im Asana eine grundlegende Voraus-„Setzung“ für die Erfahrung der spirituellen Wahrheit. Asana in Vollendung – die "Hohe Kunst des Sitzens" – ereignet sich, wenn der Asana auch im Inneren stattfindet – wenn Asana zu einer beständigen inneren Haltung geworden ist.