ASANA - Die Kunst des Sitzens

16.05.2014

 

ASANA – Die Kunst des Sitzens

 

Bei uns in den westlichen Ländern steht das Praktizieren der Asanas für den Yoga schlechthin. Sagt jemand „ich mache Yoga“, meint er damit in der Regel das Ausführen der Körperstellungen bzw. Sitzpositionen, wie sie im klassischen Yoga-System Patanjalis oder dem des Hatha-Yoga seit vielen Jahrhunderten gelehrt werden. Doch obwohl Asana bei uns eine derart hohe Wertschätzung widerfährt, fällt auf, dass es häufig nahezu ausschließlich der äußere, rein körperbezogene, Aspekt des Asanas ist, der für viele Praktizierende unter der Bezeichnung „Yoga“ von Bedeutung ist.

In der Tat beginnt Asana – wie nahezu alles im Yoga – auf der äußeren Eben. Denn hierhin hat es uns als Menschen verschlagen. Hier in der äußeren Welt erfahren wir das, was wir „unser Leben“ nennen – oder zumindest scheint es so zu sein. Folgerichtig muss hier auch unsere Sadhana – der Weg, der uns zu Höherem führen soll – seinen Anfang nehmen. Doch was nun folgen sollte, ist der Weg nach innen. Oder wie Novalis es ausdrückte:

„Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgendwo ist die Ewigkeit.“

Da nun das System des Yoga alle Aspekte und Bereiche des Lebens nutzt, um uns zu diesem Ziel zu führen, geht es aus eben diesem Grunde natürlich auch bei allen körperbezogenen Übungen und Praktiken letztendlich um nichts anderes, als uns zur Erfahrung unserer inneren Dimension zu verhelfen, die Novalis nicht ohne Grund als „ewig“, also grenzenlos, beschreibt.

Welcher Aspekt des Lebens könnte nun einfacher, natürlicher und alltäglicher sein als das Sitzen. Einfach nur zu sitzen. Das kann im Prinzip jeder. Und gerade deshalb greift der Yoga diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – grund-legenden Aspekt auf – und macht daraus für uns ein raffiniertes Lernprogramm, ein Trainingsfeld, eine erhabene Kunst gar. Alles natürlich – fünf Euro in die Phrasen-Kasse – um uns da abzuholen, wo wir uns befinden. Und uns dort hinzuführen, wo unser Ziel, unser wahres Zuhause, ist. Die Reise geht also von außen nach innen. Das ist das Prinzip des Yoga.

Was nun haben die Yoga-Asanas mit diesem grundlegenden Lebensaspekt „Sitzen“ zu tun? Ganz einfach: Die wörtliche Bedeutung von Asana ist nun mal „sitzen“. Asana stammt von der Sanskritwurzel as (sprich: aas). Und das bedeutet „sitzen“. Genauer gesagt, ist dies die wörtliche Bedeutung des Wortes. Verwendet allerdings wird das Wort Asana in unterschiedlichem Sinne, wie z.B. Haltung, Stellung, Position, Körperübung usw. Die ursprüngliche Idee der Yogis und Yoga-Meister, die dieses Asana-System vor langer Zeit entwickelten, wird erkennbar, wenn wir uns einmal folgenden Vers aus einem der Hatha-Yoga Werke näher betrachten. Da heißt es in der Gheranda Samhita (2.1), einem der elementarsten Werke des Hatha-Yoga:

„Es gibt zusammen so viele Asanas, wie es Spezies von Lebewesen gibt. Von Shiva wurden 8.400.000 genannt.

Eine hiermit identische Aussage kann man dem nicht weniger bedeutenden Goraksha Shataka (8-9) entnehmen:

„Wie viele Spezies von Lebewesen existieren, so viele Asanas gibt es. Die vollständige Unterscheidung von diesen kennt nur Shiva. Jeder einzelne der 8.400.000 wurde erklärt. Hiervon hat Shiva 100 [genommen und] davon 16 abgezogen.“

Die hier und auch anderswo in den Yoga-Werken genannte Zahl 8.400.000 bezieht sich übrigens auf die Anzahl aller Spezies dieser Welt, die nach yogischer Auffassung die individuelle Seele im Verlauf ihrer Evolution durchlaufen muss, um schlussendlich als Mensch geboren zu werden. Was allenthalben als Conditio sine qua non für das Erlangen von Befreiung (Moksha) erachtet wird. Von dieser Anzahl werden gemäß der hier aufgemachten Rechnung 100 genommen und davon 16 abgezogen, was dann jene 84 Asanas ergibt, die gemeinhin im Hatha-Yoga als „die Asanas“ verstanden werden. Aber das sei eigentlich nur am Rande erwähnt. Viel entscheidender ist die klare Definition von dem, was Asana eigentlich ist, nämlich: Die natürliche Sitzweise eines jeden Lebewesens.

Vernachlässigen wir einmal, dass nicht alle Asanas auf Tiere bzw. deren Sitzhaltung zurück gehen (z.B. Vrikshasana von vriksha, „Baum“ oder Virasana von vira, „Held“), so ergibt sich dennoch aus den obigen Aussagen oder Definitionen, ganz klar, um was es ursprünglich vermutlich ging:

Da gibt es in uns angelegte Kräfte, Eigenschaften oder Vermögen, die wir auf unserer langen Reise durch die Evolution erlangt haben. Und diese sollen oder können durch das Sitzen, so wie wir „früher“ gesessen haben, wieder entdeckt und erweckt werden.

Hierbei haben die Asanas, wie sie uns von den Meistern als Praktiken dargeboten werden, eine ganz und gar natürliche Schlüsselfunktion. Sie sollen uns quasi an all die in uns schlafenden Kräfte der Natur wieder erinnern. Denn Neues entwickeln müssen wir ja gar nicht. Alles ist bereits da. Es geht wie immer im Yoga um die Entfaltung dessen, was bereits vorhanden ist und nicht um die Entdeckung oder den Erwerb von uns unbekanntem Neuem.

Durch das Sitzen wie die Lebewesen in Natur sitzen, entdecken wir die in uns vorhandenen Kräfte (Shakti) der Natur. Dabei geht es überhaupt nicht um das, was sich in der äußeren Natur ereignet, sondern um die innere Natur. Die inneren Kräfte der Natur, die sich unentwegt um uns herum entfaltet, sind identisch mit unseren inhärenten, individuellen inneren Kräften. Erinnern wir uns an dieser Stelle an die grundlegende Lehre der Kongruenz bzw. Identität von Mikrokosmos und Makrokosmos. Dieses universale Prinzip ist auch im Zusammenhang mit den – zumindest vordergründig – körperbezogenen Übungen und Praktiken des Yoga unbedingt zu beachten.

Asana – das verwundert nicht wirklich – hat also mindestens ebenso mit etwas Innerem und nicht nur mit etwas Äußerem zu tun. Asana ist wie erwähnt, zumindest war es ursprünglich so gedacht, ein Schlüssel – ein Schlüssel, der uns das Tor zur inneren Erfahrung eröffnet. 

 

Fortsetzung folgt in Kürze ...