Kriya – Wenn die Göttin des Universums in Dir zu tanzen beginnt -2 (4)

03.09.2014


Kriya – Wenn die Göttin des Universums in Dir zu tanzen beginnt -2

 

Teil 2- Varnamayi

In dieser vierteiligen Blogbeitrags-Reihe geht es um die bei Kundalini-Yogis auftretenden – und vielfach dokumentierten – Erfahrungen beziehungsweise Begleiterscheinungen im Zusammenhang mit der Erweckung und Entfaltung von Kundalini-Shakti. In den klassischen, Jahrhunderte alten Kundalini-Tradionen ist diesbezüglich von insgesamt vier verschiedenen Typen oder Klassen die Rede – Kriyavati, Varnamayi, Kalatma, Vedhamayi. Daher habe ich mich entschlossen, jedem dieser Typen oder Klassen jeweils einen kleinen Beitrag zu widmen.

Hierbei berufe ich mich wiederholt und ganz absichtlich auf das Werk „Devatma Shakti“ von Swami Vishnu Tirtha. Dieses 1948 erschienene Werk genießt aufgrund seiner enthaltenen seltenen Informationen bei einer Vielzahl von indischen Philosophen und Yoga-Lehrern der Kundalini-Traditionen große Anerkennung – der bekannte Philosoph und Sanskrit-Gelehrte Gopinath Kaviraj schrieb das Vorwort“ – weshalb es allgemein zu den Elementarwerken des Kundalini-Yoga und der Kundalini-Literatur gezählt wird. Der nun nachfolgende Text beruht auf der Grundlage von Auszügen aus meinem „Großen Kundalini-Buch – Kundalini Erfahrungen“ (Kapitel 10 „Die Entfaltung“).

Kommen wir nun also zur zweiten Form der Kundalini-Manifestation, Varamayi (von Skt. Varna, „wörtl. Bedeutung: Erscheinung, Gestalt, Form, Farbe; aber auch: Laut, Ton, Wort“). Im vorliegenden Kontext sind damit also alle lautlich vernehmbaren Kriyas gemeint.

Als ich während eines Yoga-Intensiv-Seminars 1980 Shaktipat-Einweihung erhielt, hatte ich urplötzlich  in der Meditation „Wahrnehmungen“ von Welten, Lebewesen, Städten und Landschaften, die nichts mit dem gemein hatten, was ich bisher je in meinem Leben gesehen hatte. Und ich sah all das, völlig gleich ob ich die Augen geschlossen hielt oder öffnete. Das war für sich schon faszinierend genug. Doch nach einiger Zeit begann ich spontan in einem mir völlig unbekannten rhythmisch-melodischen Singsang – einer Art „Sprache“ – das, was ich sah, zu kommentieren. In Verbindung mit dem, was ich da erblickte, stiegen nämlich außerordentlich intensive Empfindungen auf, so als hätte das Geschaute unmittelbar mit mir zu tun oder einmal zu tun gehabt. Sowohl dieses Wahrgenommene – das nicht einfach aus Bildern, sondern aus lebendigen, greifbar nahen und sehr farbigen Szenen bestand, die ich sehr genau betrachten konnte – als auch das davon begleitete Sprechen und Singen, das Mantra-Gesängen nicht unähnlich war, sprudelte mit unglaublicher Vehemenz aus meinem Inneren. Gleichzeitig konnte ich mich und meine Reaktionen darauf völlig ruhig und unbeteiligt beobachten. Das Ganze dauerte etwa eine Stunde und ließ mich geistig-emotional gestärkt, doch körperlich vorübergehend völlig erschöpft, zurück.

[Ich möchte hier ergänzen, dass bei dieser Art Erfahrungen, so sie durch das Wirken der Shakti eines Sadgurus und bei einem entsprechend vorbereiteten Schüler/Schülerin hervorgerufen werden, nichts zu befürchten ist. Sie sind „echt“ und nicht psycho-pathologischer Natur. Ein psychotischer Schub zum Beispiel verschärft sich ohne professionelles Eingreifen. Die hier genannten Erfahrungen hingegen verschwinden ganz von allein und sind bei dem Betroffenen von einer sehr positiven geistig-psychischen Entwicklung gefolgt. Darüber hinaus stellen sie bei einer Shaktipat-Einweihung ganz und gar nichts Besonderes dar. Sie gehören eher zum „üblichen“ Erlebnis-Repertoire und gehen wie sie gekommen sind. Außerdem sollte man sich klar machen, dass so etwas zu erfahren nicht bedeutet, dass man schon etwas erreicht hätte. Es ist schlicht und einfach ein Hinweis darauf, dass man sich auf dem richtigen Weg befindet. Was jedoch keinesfalls gering zu schätzen ist, sondern mit Achtung und Dankbarkeit angenommen werden sollte.]

Wenn Kundalini sich als Varamayi offenbart, nimmt sie die Gestalt oder Rolle von Sarasvati, der Göttin oder des Prinzips der Weisheit, Kreativität und Sprache, an. „Als Varnamayi“, so schreibt Vishnu Tirtha, „erweckt sie die göttlichen, vokalen Kräfte eines Yogi, die bisher ruhten. Er beginnt automatisch Silben, Worte, Sätze und Mantras in Sanskrit und verschiedenen anderen Sprachen zu sprechen, die ihm selbst manchmal völlig unbekannt sind“.1 Diese lautlichen Kriyas, wie Vishnu Tirtha bemerkt, umfassen aber auch Tierlaute. Auch dies ist ein in Kundalini-Yoga-Kreisen durchaus bekanntes Phänomen. Wenn man bedenkt, dass alles, was wir je gedacht, gesprochen, gesagt, getan und erlebt haben in der Sushumna-Nadi – dem zentralen Kanal im feinstofflichen Körper, in dem die Kundalini aufsteigt – gespeichert ist, dann verwundert es nicht, dass unter Kundalinis reinigender Wirkung eben auch Eindrücke hinausgeschleudert werden, die sehr sehr alt sind. Manche Menschen, denen solche Varnamayi-Kriyas widerfahren, berichten, dass solche Tierlaute nicht nur aus ihnen hinaus brechen, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, sondern dass sie sich in diesem Moment eben auch so bewegen und fühlen wie eine Schlange, Katze, Krähe, oder ein Affe, Hund, Löwe, Vogel etc.2 Es wäre allerdings auch möglich, dass diese Erlebnisse nicht oder nicht nur auf unsere persönlichen Eindrücke zurückzuführen sind, sondern auf den oben angesprochenen kollektiven Bereich aller je gemachten Erfahrungen.

Doch Varnamayi betrifft nicht nur das Sprechen, sondern auch alle Erfahrungen und besonders Fähigkeiten im Bereich der Kreativität und Kunst. Viele Mystiker begannen ab einem gewissen Punkt in ihrer Sadhana Erstaunliches auf diesen Gebieten zu leisten, obgleich sie, wie wir am Beispiel des Heiligen Tukaram sahen, hierfür zuvor weder sonderlich begabt waren noch irgendwelche derartige Ausbildung erhielten. Allerdings kamen und kommen nicht nur Mystiker und Yogis in den Kontakt und unter den schöpferischen Einfluss von Varnamayi. In jedem Menschen ist ja das gleiche göttliche Potential angelegt, und gerade dieser Aspekt der Kundalini zeigt sich manchmal auch bei Menschen, die mit Kundalini (noch) nichts im Sinn haben. Insbesondere Menschen, die sich dem Bereich der Kreativität öffnen kommen sehr leicht mit diesem Aspekt der kosmischen Macht der Kundalini in Berührung – jede Form der Kreativität kommt aus dem tiefen Inneren und entsteht dort aus unserer Einheit mit dem Göttlichen.

In Pratybhijna-Hridayam Sutra 10 [bedeutendes Werk des Yoga von Kashmir] heißt es nicht ohne Grund:

tathapi tadvat panchakrityani karoti

„Selbst dann führt [die gefangene Seele] den fünffachen Schöpfungs-Akt Shivas aus.“

Was so viel bedeutet wie: Selbst als Wesen, das durch ihre eingebildete, begrenzte Identität in dieser Welt gefangen ist, besitzen wir alle schöpferischen Kräfte – allerdings in begrenztem Maße – da wir identisch mit Shiva, dem höchsten Bewusstsein, sind. Große Komponisten, wie z.B. Mozart, Wagner oder Strauss, aber auch Maler wie van Gogh, berichten davon, dass sie ihre Werke zuweilen in berauschenden, tranceartigen Zuständen fertigten. Ludwig van Beethoven zum Beispiel schrieb:

„Während des Aktes des Komponierens fließen die Ideen auf mich hernieder, direkt von Gott.“

Ähnlich meinte William Blake [englischer Dichter, Maler und Mystiker, 1757-1827]einmal:

„Ich selbst tue nichts. Der Heilige Geist vollendet alles durch mich.“

Nach Blakes Auffassung entstehen alle wahren Kunstwerke in einem „ewigen Augenblick“. Es deutet vieles darauf hin, dass Künstler oder kreativen Persönlichkeiten über ihre Tätigkeit Zugang zur Varnamayi, dem schöpferischen Aspekt der Kundalini-Shakti, fanden, und/oder durch sie ihre Inspiration erhielten. Im Unterschied zu einem Dichter, Musiker, Maler oder Bildhauer, der ab und an von der Muse bzw. Varnamayi-Kundalini „geküsst“ wird, öffnet sich jedoch demjenigen, dessen Kundalini erwacht ist und als Varnamayi Gestalt oder Wirkung annimmt, unter Umständen das Tor zur uneingeschränkten, schöpferischen Kraft des höchsten Bewusstseins in vollem Maße.

So hat Bonnie Greenwell bei ihren Untersuchungen von Kundalini-Erfahrungen festgestellt, dass viele Menschen ein Erwachen der Kreativität erfahren, und ohne irgendwelche Vorkenntnisse Anfangen zu schreiben oder anderen künstlerischen Tätigkeiten nachgehen. Greenwell erwähnt in diesem Zusammenhang auch Shri Aurobindo, der den gewaltigen Ausbruch kreativer Schaffenskraft mit dem „lichtvollen Bewusstsein“ in Verbindung gebracht habe, das man durch die spirituelle Erweckung erlange.3

Hier eine Erfahrung von einer Künstlerin und Lehrerin – aus der Sammlung von Lee Sannella („Kundalini-Erfahrung“), die dem Varnamayi-Aspekt zuzuordnen ist:

„Ich bin dieser 45-jährigen Frau erstmals vor zehn Jahren begegnet. Zu jener Zeit übte sie schon 14 Jahre lang automatisches Malen. Seit nunmehr zwei Jahren produziert sie spontane Gemälde, die ihre inneren Zustände darstellen, welche gewöhnlich unmittelbar bevorstehende Ereignisse ankündigen. Der Kuṇḍalini-Zyklus begann in diesem Fall, als die Frau einmal beim Malen das Bewusstsein verlor. Als sie wieder aus der Ohnmacht erwachte, lag ihr Körper auf dem Boden, er schüttelte sich heftig und war mit starker Energie aufgeladen. Dieser Zustand hielt ungefähr eine halbe Stunde lang an und wiederholte sich am folgenden Abend. Der Energieschub und das Zittern des gesamten Körpers traten am nächsten Morgen erneut auf, während sie Yoga-Übungen machte. An diesem Morgen entstand ihr erstes spontanes Bild.“4

Auch die Intuition, die intuitive Erkenntnis – gemeint ist dieses Heureka!, der Blitz, der wie aus einer anderen Welt zu uns zu kommen scheint, und den wir alle schon einmal in irgendeiner Form kennen gelernt haben – ist ähnlich wie die innere Stimme, die einem zu unmittelbarem Verständnis und müheloser, spontaner Einsicht führt, dem Varnamayi-Aspekt der Kundalini zuzuordnen. Hierzu gehört auch, was die spanische Mystikerin Theresa von Avila über ihre Erfahrungen mit der Kraft der Einsicht schrieb:

„Wenn ich – kaum etwas von dem verstehend, was ich in Latein rezitiere, besonders die Psalme – in diesem Zustand der Stille bin, bin ich nicht nur fähig, den Text zu verstehen als ob er in Spanisch wäre, sondern – wie ich zu meiner Freude festgestellt habe – auch in der Lage, die [tiefere] Bedeutung im Spanischen zu erfassen.“5

 

 Der dritte Teil über die Kalatma-Auswirkungen folgt demnächst ...

 

 

1Swami Vishnu Tirtha, Devatma Shakti, S. 87.

2Einiges davon habe ich vor vielen Jahren selbst erlebt, aber auch bei anderen wiederholt beobachten können.

3B. Greenwell, Kundalini, S. 84.

4Lee Sannella, Kundalini-Erfahrung. Synthesis Verlag, S. 56.

5The Life of Teresa of Jesus, übersetzt und herausgegeben von E. Allison Peers.New York 1960, S. 158; zitiert in: Swami Kripananda, The Sacred Power, S. 73.