SHIVA-LINGAM – Die geheimnisvolle Form des formlosen Unendlichen

29.03.2015

 
SHIVA-LINGAM – Die geheimnisvolle Form des formlosen Unendlichen


Das Shiva-Lingam ist eines der beeindruckendsten Darstellungen oder Symbole der Menschheit. Zugegeben – genau genommen hat es keine besondere Eigenschaften. Es erinnert in seiner massiven Festigkeit und Kompaktheit eher an die Erde, an Materie, als an etwas Höheres, Spirituelles. Manche meinen, es sei nur ein altes Phallussymbol. Und kunsthistorisch betrachtet hat es eigentlich eine ziemlich „primitive“ Form. Solche Aussagen und Ansichten über das Shiva-Lingam mögen ihre Berechtigung haben. Dennoch strahlt seine archaisch anmutenden Gestalt etwas äußerst Geheimnisvolles aus – etwas, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Das Shiva-Lingam lässt sich nicht mit unserem Verstand erfassen, lässt sich nicht wirklich verstehen. Doch kann man es erfahren – im Inneren spürbar wahrnehmen. Schaut man es längere Zeit an und versenkt sich in diese „Form des Formlosen“, bringt es den Geist zur Ruhe und öffnet das Tor zur inneren Unendlichkeit.

Lingam (auch Linga) ist ein Sanskrit-Begriff und bedeutet wörtlich „Kennzeichen“. Das Shiva-Lingam ist also die nicht-bildhafte Darstellung, das Kennzeichen oder Symbol, des Absoluten und damit des Urgrunds der Schöpfung. Das Lingam kennzeichnet die Gegenwart Shivas. In Indien erzählt man sich, dass Shiva – wenn er erscheint um seinen Verehrern zu helfen – sein Zeichen in eben dieser Form hinterlässt.

Schaut man sich das Shiva-Lingam genau an, so erkennt man jedoch recht schnell, dass die Bezeichnung dem Objekt nicht ganz gerecht wird. Denn das Lingam ist nicht nur das Kennzeichen Shivas, sondern auch das der Shakti. Das Shiva-Lingam stellt nämlich die Vereinigung des Lingam (Phallus) mit der Yoni (Vulva) dar. Somit ist das Shiva-Lingam genau genommen die anikonische Darstellung von SHIVA-SHAKTI - dem unendlichen, transzendenten Bewusstsein (Para-Shiva) in Vereinigung mit seiner unbegrenzten, kreativen Energie und Schöpferkraft (Para-Shakti).

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass hier die beiden Geschlechtsteile in Vereinigung dargestellt sind – interessanterweise so, als wenn sich der Betrachter, und damit auch das Universum/die Schöpfung, zum Zeitpunkt der Vereinigung im Inneren des Uterus befände. Damit jedoch weist es den Betrachter auf etwas weitaus Höheres und Bedeutsameres hin. Das Shiva-Lingam repräsentiert nämlich das ewige und unerschöpfliche Potential des höchsten Bewusstseins (Paramatman), den Urgrund allen Seins – die wahre Natur und Identität eines jeden Betrachters. Das Shiva-Lingam ist das Symbol dafür, dass sich  das Göttliche nicht nur im Menschen offenbart hat, sondern in seiner Gesamtheit als Mensch. Betrachten wir das Shiva-Lingam – so bekommen wir eine Ahnung von uns selbst, unserer eigenen unendlichen und ewigen formlosen Form.

Doch obwohl – wie so oft im Yoga – die innere Betrachtung den eigentlichen Weg weist, hat die Betrachtung des Äußeren – des äußeren Lingam – durchaus seine Berechtigung. Beginnt nicht der Weg des Menschen oftmals außen und wird dann im Inneren beschlossen? Es lässt sich also viel Interessantes über das Lingam berichten. In Indien gibt es zwölf besonders geheiligte Lingams, die Jyotir-Lingams genannt werden – "Lingams des Lichts". Einige von ihnen haben sich auf natürliche Weise gebildet. Man findet sie im Freien oder in tiefen Höhlen. Wieder andere sind in alten Tempeln aufgestellt. Sie gelten alle als spontane Manifestationen Shivas, Erscheinungen des Göttlichen in dieser Welt. Und um alle diese Lingams ranken sich uralte Geschichten.

Mit dem namhaften Lingam bei Kedarnath im Hochgebirge, ganz im Norden Indiens, soll Shiva den beiden Weisen Nara und Narayana eine Gunst erwiesen haben. Aber auch im Süden findet sich ein ein nicht minder bekanntes „Teil“. Dort, in Rameshvaram, gibt es ein Lingam, das von Rama persönlich verehrt worden sein soll, um sein Vergehen, die Tötung des Dämonen Ravana, zu sühnen. Die genannten Lingams sind nur zwei der berühmten "zwölf Lingams des Lichts" (Jyotir-Lingam). Insgesamt findet man sie verteilt über ganz Indien – in Kedarnath (Himalaya), Vishvanath (Benares), Mahakaleshvar (Ujjain), Omkareshvar (Narmada-Fluss), Shri Shailam (Krishna-Fluss), Vaidyanath (Deogarh), Bhimashankar (Sahyadri-Gebirge), Ghrishneshvar (Daulatabad), Tryambakeshvar (Nasik), Nageshvar (Dvaraka), Rameshvaram (Ramanathapuram). Die Jyotir-Lingams befinden sich häufig in der Nähe von Shakti-Pithas – Orte, an denen sich die Göttin (Devi, Durga) offenbart hat, Orte an denen spürbar eine außergewöhnliche, enorme Kraft herrscht.

In Amaranath, in Kashmir, wird Shiva sogar in Gestalt eines weltbekannten, riesigen Lingam aus Eis verehrt. Dieses Lingam kann nur besuchen, wer eine Reise über einen schmalen und gefährlichen Pfad auf sich nimmt. Und dennoch unternehmen jährlich Tausende von Pilgern diese Reise. Shiva-Lingams können aus ganz unterschiedlichen Materialien bestehen. Oftmals sind es natürliche Monolithe. Wenn sie solcherart, aus Stein, sind, dann sollen sie beim Verehrer übernatürliche Kräfte (Siddhis) hervorbringen. Sind sie aus Juwelen, sollen sie Glück und Reichtum bewirken. Ein Lingam aus Holz soll zu Erfolg und weltlichem Vergnügen führen.

Doch wie bereits erwähnt, und wie beispielsweise auch Novalis wusste - „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, in uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten.“ Wenden wir uns daher den inneren Lingams zu. Denn darüber gibt es so einiges zu berichten. Innerhalb des feinstofflichen Körpers befinden sich gemäß der Physiologie der tantrischen Yogis drei geheime, subtile Lingams: das Svayambhu-Lingam im Muladhara Chakra an der Basis der Wirbelsäule, das Bana-Lingam im Anahata oder Hridaya Chakra und das Itara-Lingam im Ajna Chakra zwischen den Augenbrauen.

Allerdings ist mit dem "inneren Lingam" noch etwas ganz anderes gemeint. Es ist bekannt, dass viele der Yoga-Meister noch zu Beginn ihrer Yoga-Sadhana als Schüler das Shiva-Lingam im Äußeren verehrt haben. Doch im Laufe ihrer spirituellen Entwicklung wandte sich diese Verehrung immer mehr nach innen. Als ein Yoga-Schüler – der später selbst zu einem großen Meister wurde – seinen Meister traf und dieser den Schüler fragte:

„Was hast du gerade gemacht?“

Da antwortete der Schüler:

„Ich habe Shiva gebadet, habe ihm Abhishek (heilige Waschung) gegeben.“

Daraufhin lachte der Meister und sagte:

„Der, den du verehrst, ist auch in dir. Er ist es, der dir die Kraft gibt, es zu tun. Verehre ihn durch Meditation – Meditation ist die wahre Verehrung. Erlange Ihn durch Meditation. Indem du auf diese Weise Shiva verehrst, wirst du selbst zu Shiva“.