Guru Purnima – Das Vollmondfest zu Ehren der Meister

31.07.2015

 

Guru Purnima – Das Vollmondfest zu Ehren der Meister

 

In diesem Jahr ist am 19. Juli Guru Purnima! Ob wir einen persönlichen Meister haben oder nicht – dieses Fest ist bedeutsam für alle Yoga-Praktizierenden. Denn ohne die Meister und Meisterinnen, die bereits in der Frühzeit der Menschheit vielen Suchenden mit ihrer Weisheit und Erfahrung zur Seite standen, gäbe es Yoga überhaupt nicht. Diese Meister waren und sind es, die die verschiedenen Yoga-Wege schufen, auf denen noch heute zahllose Menschen in Ost und West eine höhere Form von Freiheit, Glück und Liebe erlangen.

Die indische Bezeichnung für „Meister“ ist Guru. Guru ist in der Sanskrit-Sprache zunächst einmal ein ganz gewöhnlicher Begriff und bedeutet wörtlich „schwer“. Im weiteren Sinne aber auch „gewichtig, bedeutsam, essentiell“. Wir kennen allerdings auch noch eine andere, eine eher esoterische Bedeutung. Und die ergibt sich, wenn man das Wort Guru in die beiden Silben Gu und Ru teilt. In den alten Yoga-Werken heißt es, dass Gu für „Dunkelheit“ steht und Ru für Licht. Guru ist demnach also derjenige, der aus der Dunkelheit ins Licht führt.

Guru Gita Vers 23 -

gukaras tvandhakarashca rukaras teja ucyate /

ajnana-grasakam brahma gurureva na samshaya //

„Die Silbe gu ist Dunkelheit, und von der Silbe ru heißt es, sie sei Licht. Es gibt keinen Zweifel, dass der Guru in der Tat das höchste Wissen ist, das [die Dunkelheit der] Unwissenheit verschlingt.“

Das erinnert an das lateinische Wort educare, wörtlich „hinaus-führen“, aber auch „empor-ziehen“. Allseits bekannt ist ein englisches Wort, das sich unmittelbar hiervon ableitet, nämlich education, „(Aus-)Bildung“. Die Grundbedeutung von Englisch education oder auch Deutsch Edukation verweist also letztendlich auf diesen einen Vorgang: Das Hinausführen aus dem Dunkel der Unwissenheit in das Licht von Wissen und Erkenntnis.

Wenn ich hier den Begriff „Vorgang“ gebrauche, so tue ich das ganz bewusst. Denn Guru bezeichnet weniger eine Person, einen Menschen – das sagen die Yoga-Gurus allenthalben selbst – als vielmehr einen Vorgang, einen Prozess, einen Weg zu höherer Entwicklung. Wenn wir also Yoga praktizieren, dann erleben wir in gewisser Weise alle Guru – eben als unseren Bildungs- und Entwicklungsprozess zu der bereits genannten höheren Form von Freiheit, Glück und Liebe. Guru ist nach yogischer Auffassung das universale Prinzip, das unseren Aufstieg ermöglicht. Guru ist nichts anderes, als eine Bezeichnung für den Transformationsprozess des Yoga schlechthin.

Warum nun feiert man ausgerechnet heute dieses Guru-Prinzip? Weil am heutigen Tag der erste Vollmond (Purnima) des indischen Monats Ashadha (nach westlichem Kalender im Juni/Juli), stattfindet – eben der eine Vollmond, der dem Guru gewidmet ist. Der Guru, so wird gesagt, gleicht dem Vollmond. Denn wie der Mond seine Strahlen auf die Menschen herabsendet, so schickt auch der Guru oder das Guru-Prinzip sein Licht – das Licht der Erkenntnis – den Suchenden.  

Der Mond hat in Indien – geprägt von den Vorstellungen früherer Zeiten – eine sehr große Bedeutung. Das gesamte neunte Buch des Rig Veda – eines der ältesten Werke der Menschheit – ist dem Mond gewidmet. Darin wird der Mond als Gottheit mit dem Namen Chandra oder Soma angerufen und verehrt. Die alten Werke – beispielsweise des Yoga und der Astrologie/Astronomie (Jyotisha) – beschreiben den Mond sehr ausführlich. So zum Beispiel seine 16 Phasen: Von der ersten Phase des „dünnen Splitters“ in der dunklen Nacht, bis hin zur „leuchtenden Himmelskugel“, die die Erde mit ihrem silbernen Glanz erhellt.

Über die Beschreibung des Mondes in den alten Werken gäbe es endlos zu berichten, weil er nunmal die Menschen über die Jahrtausende so sehr beschäftigt hat. So lautet einer seiner vielen Namen – ein Name der mich zu Beginn meines Studiums und meiner Indienreisen faszinierte – Shashin, wörtlich „der einen Hasen hat“. Ein recht ungewöhnlicher Name, sollte man meinen. Doch Shasha ist im Sanskrit ein Wort für „Hase“, und wenn man sich in Indien befindet, und damit näher am Äquator, hat der Mond eine etwas andere Position. Wenn man dann nachts in den Vollmond schaut, sieht man das Abbild eines aufrecht sitzenden Hasen.

Aber es gibt noch weitere interessante Details zu Guru Purnima zu berichten. So zum Beispiel auch über die Jahreszeit, zu der Guru Purnima stattfindet. Im Moment haben wir nämlich Chaturmasya – wörtlich „vier Zwölftel“ oder „zwölf Monate“ – Monsun-Zeit. Eigentlich dauert der Monsun häufig nur zwei Monate. Aber diese Bezeichnung – aus der vedischen Epoche – hat damit zu tun, dass die Asketen und Yogis gerade zu dieser Zeit intensiv Meditation und andere spirituelle Übungen vollzogen haben und man daher diese Zeit als doppelt wertvoll und intensiv erachtete. Denn während des Monsuns – wenn die Zeit großer Hitze und Trockenheit zu Ende gegangen ist und nun eine Phase heftigster Regenfälle folgt, und zwar so sehr, dass die Wege vollkommen unpassierbar sind – suchen sogar die Wander-Asketen für die kommenden Wochen und Monate eine dauerhafte Bleibe. Es ist die große Zeit für Sadhana – ausgedehnte Yoga-Praxis: Äußerer Rückzug und innere Einkehr.

Der eigentliche Tag und die Nacht von Guru Purnima wird unter Yoga-Praktizierenden natürlich ganz besonders mit spirituellen Übungen – wie Mantra-Singen, Meditation und Puja – begangen. Nach traditioneller Auffassung sind nämlich spirituelle Praktiken gerade zu Guru Purnima von ganz besonders kraftvoller Wirkung. Denn gemäß vedischer Astrologie stehen alle Purnimas, im wahrsten Sinne des Wortes, unter einem besonderen „Stern“ - Nakshatra genannt – und profitieren natürlich von deren besonderen Eigenschaften. Zur Zeit eines Vollmondes stehen Sonne und Mond in Opposition, wodurch der Mond die ganze Kraft der Sonne erhält und konsequenterweise die Erde vom Mond. Das bedeutet, dass jeder Stern, der zu diesem Zeitpunkt Sonne oder Mond beeinflusst, seine Energie und seine Qualitäten auch auf die Erde ergießt.

Während des Vollmondes (Purnima) im Monat Ashadha bewegt sich der Mond unter dem Einfluss eines Sternes, der Purva Ashadha genannt wird – in der westlichen Astrologie bekannt unter der Bezeichnung Pelagus, Sigma oder auch Vega Sagittarii. Nach vedischer Auffassung ist dieser Stern der „Wasser-Beschaffer“. Wasser ist im Yoga-Kontext ein Synonym für Leben – und zwar nicht nur für das physische, sondern auch für das spirituelle Leben. Außerdem steht zu diesem Vollmond die Sonne in Opposition zu dem Riesenstern „Betelgeuse“, dessen Gottheit Shiva ist – der All-Guru. Vom Mond wie auch von der Sonne erhalten wir also an diesem Tag ganz besonders segensreiche Kräfte.

Guru Purnima mit all seinen Aspekten – und ich habe bei weitem nicht alle genannt - mag hier und heute für uns nicht von solch großer Bedeutung sein, wie in Indien. Kulturell, klimatisch und sonstwie bedingt führen wir ein anderes – ein sogenanntes „modernes“ – Leben. Und doch können wir uns von dem indischen Vollmondfest Guru Purnima beflügeln und bereichern lassen. Daher wünsche ich Euch allen ein Glückverheißendes Gurupurnima - oder wie man in Indien sagt:

 

-- SHUBH GURUPURNIMA! --


-- SHUBH GURUPURNIMA! --


-- SHUBH GURUPURNIMA! --