Der tanzende SHIVA ... bist DU! -2

27.04.2014

 

Der tanzende SHIVA ... bist DU! -2


Alles in diesem Universum – unser persönliches Leben, das Leben in der Natur vor unserer Haustür, das gesamte Leben auf diesem Planeten, wie überhaupt alles  Dasein in den Weiten des Alls – ereignet sich also auf der Grundlage dieser drei Handlungen. Doch um aus diesen drei Schritten einen wirklich fließenden Ablauf und vollkommenen Tanz zu gestalten, fehlen noch zwei ganz entscheidende Schritte bzw. kosmische Handlungen: die „Verhüllung“ und das „Gewähren der göttlichen Gnade“. 

Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass Shiva mit einem Bein auf etwas steht oder tanzt: das ist Andhaka, der „Dämon der (geistigen) Dunkelheit“ oder besser „Dämon der Selbst-Vergessenheit“. Gemeint ist hier der- oder dasjenige, was uns Menschen die wahre Natur der Schöpfung, und somit auch unsere eigene wahre Natur, verhüllt. Man kann hierzu auch ganz einfach „Ego“ sagen. Das Ego, das begrenzte Ich, verschleiert uns die Wahrheit. Das mag man bedauern. Aber kosmisch betrachtet ist dieser Handlungsschritt notwendig.

Denn stellen wir uns einmal vor, wir säßen in einem Theater und könnten unsere tatsächliche Identität nicht für einen Augenblick vergessen oder in den Hintergrund schieben – die Schauspieler auf der Bühne könnten sich noch so Mühe geben, wir würden das Schauspiel nicht wirklich genießen. Denn hierzu ist das Vergessen der eigenen Identität und Hineinschlüpfen in eine andere, in die Personen und Handlungen auf der Bühne, unabdingbar. Wir tun das im Übrigen viele Male an nur einem einzigen Tag, nämlich im Verlauf unserer zahllosen Träume, Phantasien und Gedanken – von wegen Wach-Bewusstsein... 

Und was im Kleinen gilt, gilt auch im Großen. Unsere vorübergehende Selbst-Vergessenheit ist Bestandteil des kosmischen Schauspiels oder Tanzes. Und diese unsere Selbst-Vergessenheit – die Verhüllung unserer wahren Natur oder Identität – ist nichts anderes, als die Selbstvergessenheit Shivas. Shiva nimmt diese Verhüllung unendliche Male an sich selbst vor, um das Schauspiel, das wir „Leben“ nennen, zu erfahren und zu genießen – um sich selbst als Individuum unzählige Male zu erleben.

Irgendwann jedoch kommt Shiva – als Individuum Mensch – im wahrsten Sinne des Wortes wieder „zu sich“. Dies setzt jedoch das Einsetzen und Wirken von etwas ganz Entscheidendem voraus: der göttlichen Gnade, im Sanskrit mit diesem wunderschönen Begriff Anugraha bezeichnet. Anugraha ist nichts, was von außen kommt und genau genommen ist diese Gnade auch nichts, was nicht schon immer da gewesen wäre. Und dennoch ist dieser göttliche Impuls, dieser Akt unendlicher höchster göttlicher Liebe, zu einem bestimmten Augenblick unbedingt notwendig, damit wir beginnen aufzuwachen. Wir können uns einfach nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen – eine yogische Binsenweisheit. Für diesen Akt der Gnadengewährung und nachfolgenden Offenbarung unseres wahren Selbst als höchstem Bewusstsein gibt es in Indien nur einen angemessenen Begriff - der hier in der westlichen Kultur leider häufig missverstanden wird - Guru.

Guru parameshvari anugrahika shaktih, heißt es in einem bedeutenden shivaitischen Werk des Yoga, „Guru ist die gnadenspendende Kraft Gottes“. Guru ist per Definition also in erster Linie kein Mensch, sondern die unendliche Segenskraft, die sich durch einen vollkommenen Meister oder eine Meisterin offenbaren kann. Dieser letzte Schritt im kosmischen Reigen findet sich beim tanzenden Shiva ikonographisch gleich zweifach dargestellt: durch eine Hand und einen Fuß. Shiva weist mit der einen Hand auf den sich vom Grunde erhebenden Fuß. Dieser Fuß ist Ausdruck für  das Sich-Erheben des Individuums aus seiner irrealen, eingebildeten Gefangenschaft. Der letzte Schritt ist also die wahre „Auferstehung“ – die höchste „Selbst-Erkenntnis“.

Interessanterweise entspricht die Darstellung des tanzenden Shiva exakt derjenigen Position, mit der jede Tänzerin beim klassischen indischen Tanz (Bharat Natyam) ihren Tanz beginnt ... und mit der sie ihn auch wieder beschließt. Womit ebenfalls zum Ausdruck kommt, dass in allem, was existiert und mit allem, was sich in unserem Leben ereignet, Shiva selbst wieder und wieder offenbart. Oder wie es im Svacchanda Tantra heißt:

na shivam vidyate kvachit,

„Es existiert nichts, was nicht Shiva ist.“  

Die Darstellung des Shiva Nataraj, des „kosmischen Tänzers“, sollte daher nicht einfach irgendwo aufgestellt, betrachtet und äußerlich verehrt werden. Es geht auch nicht wirklich um irgendwelche hübschen äußerlichen Details dieser Statue. Es geht, wie so oft auf unserem Weg, eigentlich überhaupt nicht um eine äußere, sondern um eine innere Erfahrung. Shiva Nataraj soll uns an unsere wahre Natur erinnern und lebendig werden in und als uns. Wenn wir das, was die Darstellung ausdrückt, verinnerlichen und vergegenwärtigen, wird sich der eigentliche Sinn und Zweck unseres Lebens offenbaren. Wenn wir Zeuge werden, wie sich die fünf kosmischen Handlungen in uns und um uns herum offenbaren, dann hat sie ihren wahren Zweck erfüllt – denn dann ereignet sich wahre Meditation.