BHAKTI - Der Yoga des überfließenden Herzens – Gesänge und Gedichte an Shiva

15.09.2014

 

BHAKTI Der Yoga des überfließenden Herzens –

Gesänge und Gedichte an Shiva

 

Viele der Weisheiten des Yoga finden wir eigentlich gar nicht so sehr in den hoch philosophischen und intellektuell anspruchsvollen Abhandlungen der alten Meister und Meisterinnen. Sondern viel mehr in ihren vor Liebe und Hingabe überfließenden Gedichten und Gesängen an Gott, bzw. das Höchste Bewusstsein. Diese Wahrheit oder Erkenntnis entdeckte ich erst nach langen Studien und Forschungsreisen in Indien, in denen ich mich aufgemacht hatte, die Tiefen des Erkenntnis- und Erfahrungsschatzes der alten Yoga-Meister auszuloten. Das eigentliche Geheimnis des Yoga offenbarte sich mir nicht dort, wo ich es mit meinem Verstand vermutet hatte, sondern dort, wo es mein Herz berührte.

Leider hat man auch in Yoga-Kreisen das in diesen poetischen Werken befindliche Wissen sowie die darin befindliche Kraft (Shakti) der Worte lange Zeit vollkommen unterschätzt. An unseren Yoga-Schulen wird gemeinhin viel über die eher erkenntnistheoretisch bedeutsamen Werke des Yoga und der indischen Philosophie gelehrt und referiert – sicherlich zu recht. Doch sollte man sich nicht gerade in der Tradition des Yoga – wo es als Binsenweisheit gilt, dass es doch um die unmittelbare Erfahrung geht – auch einmal dem zuwenden, was erfüllt ist mit der lebendigen, authentischen Erfahrung der großen, unsterblichen Meister und Meisterinnen? Und genau das finden wir in ihren Gedichten und Gesängen. In diesen, dem „westlichen Yogi“ eher unbekannten, Werken öffnet sich in unvergleichlicher Weise ein Tor zur Erkenntnis und unmittelbaren Erfahrung des Absoluten.

Von ihrer Form her mögen diese Werke einfach sein. Der Kundige und Erfahrene jedoch lässt sich da nicht täuschen. Denn der Inhalt ist wirklich gewaltig. Vielleicht nicht auf den ersten Blick – ähnlich wie bei einem Mantra, das sich ja auch erst wie eine Blume demjenigen öffnet, der mit Ausdauer und Hingabe – im wahrsten Sinne des Wortes – „dabei bleibt“. Es erfordert einige Zeit, Beharrlichkeit und Achtsamkeit. Der Geist schlüpft eben nicht einfach so aus der Flasche. Diese Art Werke beinhalten ganz besondere Worte, Metaphern, Bilder, Stimmungen, die etwas bei uns öffnen. Es scheint fast so zu sein, als hätten die Frauen und Männer, die dies schrieben, den göttlichen Augenblick – den Moment oder gar den gesamten Zustand ihrer Erfahrung – in Worte verwandelt, in Buchstaben gegossen. Wer es nun vermag diese Worte für sich zu öffnen …

Ich habe zunächst einige Gedichte zwei dieser „Autoren“ ausgesucht, die mir ganz besonders am Herzen liegen - eine Frau und einen Mann. Beide aus der Shiva-Tradition des „Yoga von Kashmir“: Die berühmte Mystikerin Lalla Ded oder auch Lalleshwari (1320–1392) und den großen Siddha und Meister-Philosophen Utpaladeva (900-950).

 

- Lalla Ded -

 

Lange Zeit weinte ich und schrie nach Shiva.

Ich sucht vor mir und hinter mir,

über mir und unter mir.

Aber als ich ihn schließlich fand,

da sah ich, dass er nicht verschieden von mir war.

Da war mein Herz vollständig erfüllt.

Mein Suchen hatte ein Ende,

und ich verstand vollkommen.

 

Ich verließ mein Land

und wanderte in die Ferne,

in zehn verschiedene Richtungen.

Wie ein Wirbelwind schleuderte ich mich

in den Raum der Leere.

Ich sah Shiva überall und in jedem.

Als ich alle neun Tore schloss,

was sah ich da?

Nichts als Shiva in mir selbst.

Aber außerhalb Shivas,

da war nichts und niemand.

Sogar Lalli war verschwunden.

Wie wundersam!

 

Was ist der höchste Ort

in den man schließlich eingeht?

Oh Lalli – es ist der höchste Zustand,

das Shiva-Prinzip,

dein eigenes Selbst.

 

Shiva sieht durch deine Augen.

Shiva hört mit deinen Ohren

und spricht mit deiner Zunge.

Shiva lässt dich ein- und ausatmen

und verdaut deine Nahrung, wenn du gegessen hast.

Oh Lalli -

Verliere dich in der Wiederholung von Om Namah Shivaya.

 

Das Spiel dieser Welt ist ein lang anhaltender Traum.

In einem Traum existiert der Wachzustand nicht.

Und, wenn man erwacht, ist der Traum nicht länger real.

Jenseits dieser beiden liegt der höchste Zustand,

wo es weder Freude noch Leid gibt,

weder Durst noch Hunger,

weder Schmerz noch Unruhe.

In diesem Zustand gibt es nichts als höchsten Frieden.

Dies ist die ewige Wohnstätte der großen Yogis, Gottheiten

und des Erhabenen Shiva.

Oh Lalli – all das befindet sich in deinem Herzen.

Begib dich dort hin und lebe dort.

Dort wirst du Frieden finden.

 

Du magst baden, lachen oder arbeiten,

aber Er ist immer unmittelbar vor dir.

Meditiere über Ihn.

ER lebt in deinem Herzen.

Erkenne Ihn.

Suche Ihn nicht hier oder dort.

Und frage dich nicht 'Wo ist Gott?'

 

Versinke im Ozean der Glückseligkeit Shivas

Lösche deinen Namen und deine Form aus.

Alle Werke sind Shiva.

Alle Religionen sind Shiva.

Alles gehört zu Ihm.

Er durchdringt alles – Oh Lalli!

Du bist eine Welle dieses Ozeans.

Du gelangst jenseits von Schmerz und Freude,

wenn du dich in Shivas Ozean der Glückseligkeit versenkst.

 

 

- Utpaladeva -

 

Ich bin verwirrt, von Sorgen geplagt.

Alter und Gebrechen versetzen mich in Angst und Schrecken.

Meine Stärke ist Vergangenheit.

Ich komme zu Dir und bitte um Schutz.

Deshalb, oh Shambhu, gewähre mir recht bald,

dass ich den höchsten aller Zustände erlangen möge,

der den Pfad des Leides weit hinter sich lässt.

 

Ich bin eins mit Dir.

Beständig vertieft in Verehrung an Dich.

Da dies allezeit so ist,

warum kann ich es dann nicht natürlicherweise

sogar in meinen Träumen erfahren?

 

Oh Drei-Äugiger,

der du Sprache, Erfahrung und Wissen transzendierst.

Lass mich, ohne Hindernis, nur Dich erblicken, oh Herr.

Überall, jederzeit.

Auch im Zustand der geistigen Unruhe.

 

Lass mich, Oh Herr,

auch während mein Geist seinen eigenen Neigungen gemäß

im Reich der Sinne umher wandert,

ein standhafter Verehrer von Dir sein.

 

Aus sich selbst heraus leuchtend

lässt Du alles erstrahlen.

Erfreut an Deiner eigenen Form

erfüllst Du das gesamte Universum mit Freude.

Pulsierend und schwingend vor Glückseligkeit

lässt Du die gesamte Welt vor Glück tanzen.

Derjenige, der, ohne zu zögern,

diese materielle Welt als Deine Form

und das Universum als Form Deines Selbstes erachtet,

ist ewig voller Freude.

Warum dann ängstige ich mich überhaupt?

 

Möge ich,

mit meinen geschlossenen Augen

das Wunder der inneren Hingabe genießend,

sogar die Grashalme verehren,

mit den Worten:

'Ehre sei Shiva, mein eigenes Bewusstsein!'

 

Es existiert keine andere Freude in dieser Welt,

als frei von dem Gedanken zu sein,

dass ich verschieden bin von Dir.

 

In welchem Zustand auch immer ich sein möge -

Leben, Tod, oder irgend ein anderer -

lass mich Dich immerfort verehren,

deine unvergängliche Form,

die die gesamte Welt umarmt,

bestehend aus der Glückseligkeit des ewigen Bewusstseins.