Yoga ist...

20.12.2013


YOGA IST ... Diesen angefangenen Satz zur Zufriedenheit aller zu vervollständigen, ist wohl alles andere als einfach. Denn jede(r) hat wohl seine/ihre eigene Vorstellung darüber, was Yoga ist bzw. welche Praktiken hierbei im Vordergrund stehen. Das war übrigens von Beginn an auch im Ursprungsland des Yoga so, vor Hunderten oder gar Tausenden von Jahren. Jeder Meister, Lehrer oder Philosoph vertrat – z.B. aufgrund des eigenen Lebensweges, der Persönlichkeit und gesellschaftlichen Herkunft  – eine jeweils etwas andere Lehre und Praxis. Und das ist hier und heute auch so. Schön und gut.

Aber über eines waren sich wohl alle einig: Das letztendliche Ziel des Yoga ist die „Erkenntnis des Selbst“ (Atma-Jnana), die unmittelbare Erfahrung der eigenen wahren Natur. Man sprach daher auch von der „Verknüpfung/Vereinigung“ – die wörtliche Bedeutung des Begriffs YOGA. Gemeint war und ist die Vereinigung des individuellen oder relativen Selbst (Jivatman) mit dem absoluten oder unendlichen Selbst (Paramatman). Hierzu – so der Philosoph und Meister Patanjali – gelangt man, indem man den unruhigen und permanent aktiven Geist/Verstand zur Ruhe bringt. Deshalb lautet der berühmte erste Lehrsatz der von Patanjali verfassten Lehrsätze über Yoga (Yoga-Sutras), die die Grundlage für das klassische Yoga-System bilden:

Yogash-chitta-vritti-nirodha:

„Yoga ist das zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen des Geistes“.

Denn wenn der Geist (Chitta) als Verursacher der Unkenntnis unserer wahren Natur außer Kraft gesetzt ist, sind wir imstande ebendiese unsere Natur wieder zu erkennen.

Auch die späteren Yoga-Systeme, wie z.B. der tantrische Yoga, gingen deshalb prinzipiell davon aus, dass der seiner Natur gemäß immer nach außen strebende Geist umgekehrt und nach innen geführt werden müsse, um hier im Inneren, in seinem Ursprung, aufzugehen. Es ging im Yoga also immer und in erster Linie darum, einen vom Ursprung wegführenden Prozess umzukehren - von außen nach innen, von unten nach oben. Man könnte also sagen, Yoga besteht für uns darin, zur Quelle allen Seins – zu unserer ursprünglichen Heimat – zurückzukehren. Und besser könnte man Meditation nicht beschreiben. Von allen Übungen oder Praktiken wurde deshalb die Meditation – in welcher Form auch immer – als der direkte Weg zum Ziel betrachtet. Das lässt sich leicht am Aufbau des Systems des klassischen Patanjali-Yogas erkennen: Die letzten drei Stufen sind rein geistige Übungen und lassen alles Körperbezogenen hinter sich. Aber auch in den Tantras und anderen Werken, die zur großen Tantrischen Yogatradition zählen, wie die nachfolgend zitierten Yoga-Upanishaden und elementaren Hatha-Yoga Werke, äußern klar die Auffassung, dass der Prozess des Yoga in den körperbezogenen Ausprägungen seinen Anfang nimmt und den geistig-spirituellen Formen des Yoga gipfelt.

So nennt beispielsweise die tantrische Varaha-Upanishad (V.10) den Mantra-, Laya und Hatha-Yoga als aufeinander aufbauende Stufen eines Yoga-Prozesses, der mit dem Hatha-Yoga als der gröbsten Stufe beginnt. Von den vier wichtigsten Yoga-Arten gilt der geistig-spirituelle Raja-Yoga als der höchste und vollkommenste. So heißt es z.B. im Viveka-Sindhu (1.2.91):

"Dieser Raja-Yoga, an den man sich erinnert, er ist von vielen Yoga-Arten der beste".

In einigen Fällen werden die anderen Yoga-Arten sogar nur als Vorstufen zum „Königs-Yoga“ angesehen, wie man der Hatha-Yoga-Pradipika entnehmen kann: HYP 1.2:

"Durch den Yogi Svatmarama, nachdem er sich vor seinem Guru und Herrn verneigt hat, wird die Wissenschaft des Hatha-Yoga dargelegt, einzig zum Erlangen des Raja-Yoga."

Und dass gerade bei den Meistern der Tantrischen Yoga-Tradition der Raja-Yoga als ein in erster Linie geistig-spiritueller Weg erachtet wird, lässt sich leicht belegen, schlägt man bei Swami Vishnu Tirtha nach, einem der bekanntesten alten Kundalini-Meister, in seinem Klassiker  Devatma-Shakti (S. 113), wo es heißt:

„Body and mind are closely interlinked, the nervous system and brain forming the connecting link. Such practices fall under the head of Hatha Yoga. On the other hand the higher branch of Yoga is generally understood as Raja-Yoga, which solely relates to the practices of the mind”.

Mittlerweile wird sich der eine oder andere geneigte Leser fragen: „Was will er eigentlich mit alledem sagen...?“ Hier meine Antwort: Mitnichten besteht Yoga nur aus geistig-spirituellen oder meditativen Praktiken. Das Körperliche hat durchaus seinen Platz. Aber die bei uns gemeinhin verbreitete Vorstellung, Yoga sei in erster Linie zur körperlichen Entspannung und Gesundung gedacht, geht am ursprünglichen Gedanken und wahren Potential des Yoga vollkommen vorbei. Um mal einen zugegeben verrückten, aber durchaus in unsere Zeit passenden Vergleich zu bemühen: Wer käme schon auf die Idee, sich ein teures Porsche-Cabrio zu kaufen, um sich dann bei schönem Wetter reinzusetzen, zu entspannen, die Aussicht zu genießen und es dabei zu belassen? Fühlt sich das nicht irgendwie unvollständig an? Aber so ähnlich verhält es sich heutzutage mit dem Yoga.

Ich erlebe es immer wieder, dass ich von Yoga-Praktizierenden – meistens so im Vorübergehen – diesen Satz höre: „Ich werde jetzt noch für eine halbe Stunde Yoga machen...“ Ich kenne diesen Satz zwar, doch bin ich immer wieder sehr überrascht und irritiert. Ich verstehe für einen winzigen Augenblick nicht, was die betreffende Person eigentlich meint. Aber dann dämmert es mir – „...Ach so, Du meinst Hatha-Yoga!

Ich möchte an dieser Stelle einen Punkt ansprechen, der mir persönlich sehr wichtig erscheit – und weshalb  ich mit diesem Thema auch diesen BLOG beginne:

Yoga ist sehr viel mehr als nur ein System aus gymnastikartigen Bewegungs- und Entspannungsübungen, wie wir sie aus dem Hatha-Yoga kennen, und wie Yoga heute leider in unserer westlichen Kultur überwiegend verstanden wird. Hatha-Yoga ist gute Sache, ohne Wenn und Aber. Doch war Hatha-Yoga ursprünglich eine Vorbereitung zum eigentlichen, d.h. spirituellen, Yoga-Weg. „Yogi Svatmarama ... lehrt die Wissenschaft des Hatha-Yoga,  einzig zur Erlangung des Raja-Yoga“, um noch einmal diese wichtige Textstelle aus dem sicherlich grundlegendsten Werk des Hatha-Yoga zu zitieren.

Yoga weist uns also den Weg zu einem Ziel weit über unseren Körper hinaus. Wenngleich der Körper von großer Wichtigkeit ist, so ist er nach den Lehren der Yoga-Tradition das Gefährt in dem wir reisen, nicht das Ziel. Das sollte niemals vergessen werden. Auch in unserer Kultur beginnen viele Menschen ihre Reise mit dem Körper und ihren Erfahrung mit ihm. Dies sind allerdings nur die ersten Schritte. Wer zum wahren Ziel kommen will, muss weiter gehen.

Nach dem Verständnis der alten Meister ist Yoga eine uralte Form der experimentellen  Psychologie, Philosophie und vor allem Spiritualität, deren Sinn und Zweck die Entdeckung und Erweiterung unseres wahren, inneren Potentials ist. In den Originalwerken des Yoga ist davon die Rede, dass jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, dieses Potential – das ja seine höhere und wahre Natur ist – in unserem alltäglichen Leben zu entdecken, zu entfalten, zu erleben, zu verwenden.

Yoga wurde vor vielen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, von weisen und geistig hoch entwickelten Frauen und Männern entwickelt, damit wir alle mit dieser inneren, nie versiegenden Quelle der Kraft, Liebe, Kreativität, Harmonie und Furchtlosigkeit in Berührung kommen, aus der wir dann jeden Moment unseres Lebens und für alle Zeiten schöpfen können. Dieses Ziel zu erreichen, so sagen uns die alten Yoga-Texte, ist das Geburtsrecht eines jeden von uns . . . .