Spanda - Klangmutter des Universums 2 (4)

07.06.2015

 

SPANDA - Klang-Mutter des Universums 2 (4)

 

SPANDA ist – wie bereits erwähnt – das Pulsieren, Schwingen, Hüpfen, Tanzen des Höchsten Bewusstseins. Wir sagen: „Mein Herz hüpft vor Freude und Liebe“ - Dieses Pulsieren in unserem Inneren, das ist es! Wann immer wir dies oder ähnliches erfahren, erfahren wir Spanda und damit uns selbst ALS Höchstes Bewusstsein1. Die höchste Erfahrung ist also immer da. Sie umgibt uns, durchdringt uns. Wir SIND es. Wir erkennen es allerdings nicht – das ist Teil des Spieles des Höchsten Bewusstseins – weil wir sozusagen in die falsche Richtung blicken.

In den meisten uns bekannten Yoga-Philosophien wird das Höchste als etwas irgendwie "Sich-Selbst-Bewusstes" beschrieben, irgendwie absolut, irgendwie ewig, unveränderlich, göttlich, vollkommen. Aber auch irgendwie langweilig! Das sahen und beschrieben die Großmeister und Großmeisterinnen des YOGA VON KASHMIR gänzlich anders. Sie waren in der Lage, ihre Erfahrungen des Höchsten Bewusstseins bzw. ihren Erleuchtungs-Zustand sowohl philosophisch-konzeptionell präzise als auch poetisch und bildhaft-anschaulich – und damit höchst lebendig – zu beschreiben. Der geniale kashmirische Philosoph, Komponist, Musiker und erleuchtete Meister Abhinavagupta (950-1020) zum Beispiel schrieb in einem seiner umfangreichen Werke, dass das Höchste Bewusstsein nicht nur sich seiner selbst bewusst ist, sondern dass darüber hinaus:

„Aufgrund dieses schwingenden Selbst-Gewahrens in [Parama-Shiva] unentwegt ein spontan auftretender Klang aufsteige, der das Höchste, das „Große Herz“, genannt wird. Dieses Bewusstsein des Selbst im Herzen ist als pulsierende Schwingung (Spanda) bekannt. Und seinem Wesen nach ist es ein Überfließen in das Selbst. Denn diese Schwingung, die eine ganz bestimmte, leichte Bewegung ist – ein einzigartiges, vibrierendes Licht - ist die Woge des Ozeans des Bewusstseins, ohne die es überhaupt kein Bewusstsein gäbe.“

Abhinavagupta sagt weiter, dass sich dieses Überfließen des höchsten Ich – die pulsierende Selbst-Wahrnehmung des Aham („Ich bin“) – bewirkt, dass sich ein Klang (Nada) und ein winzig kleiner Lichtpunkt (Bindu) offenbart. Die indischen Dichter-Heiligen haben diese erste, uranfängliche Offenbarung des Bewusstseins in ihren Werken die „Melodie des Göttlichen Herzens“ genannt, und unter anderem über dieses Herz berichtet, dass es „in seinem eigenen Sein leise singt und summt“.

Die große kashmirische Yogini und dichtende Mystikerin Lalla Ded2 (1320-1390), die von Kindheit an dem Weg dieses besonderen Yoga folgte und so auch ihr höchstes Ziel erreichte, schrieb in einem ihrer zahlreichen Gedichte über ihre eigenen inneren Erfahrungen:

 

„Der ANAHATA [unangeschlagene] Klang ist jenseits von Zeit und Raum,

und doch in jedem.

Sein endgültiges Reich ist die große Leere,

wo er weder Name noch Farbe hat,

weder Ursprung noch Form.

Wenn er aus sich selbst als das reine Ich-Bewusstsein aufsteigt,

ist seine erste Form, ein subtiler Ton,

seine zweite ein winzig kleiner Lichtpunkt.“

 

Diesen beiden ersten Offenbarungen des Absoluten (Nada und Bindu) – so sagen die kashmirischen Yoga-Philosophen – sind die Wiege der Dualität. Es ist nicht so, dass nun irgendetwas außerhalb des höchsten Selbst geschähe. Das ginge gar nicht. Auch die Wiege der Dualität offenbart sich und steht im Selbst – und damit auch alles, was aus ihr geboren wird. In Hinblick auf die weitere Entstehung des Universums, ist jedoch fest zu halten, dass aus der Dualität von Nada und Bindu Trennung entsteht, Polarität und Vielfältigkeit.

Auf der Seite der klanglichen Offenbarung des Bewusstseins entstehen nun Laute, Silben, Worte und Sätze, sowie auch die mit höchster Energie aufgeladenen Silben und Silbenreihen, die wir als MANTRAS bezeichnen. Von diesen subtilen und höchst subtilen Ebenen – durch immer weitere Differenzierung und Kontraktion der uranfänglichen Energie – steigt das Bewusstsein quasi immer weiter herab und wird aus sich selbst heraus und in sich selbst zu dem, was wir das Universum nennen – die materielle Welt.

Die Welt, in der wir leben, und mit der wir uns identifizieren, ist folglich nichts anders, als eine Verkörperung der Glückseligkeit des Höchsten Bewusstseins – SHIVA. Der erleuchtete Yoga-Philosoph Kshemaraja – ein kongenialer Schüler Abhinavaguptas – schrieb über den Spanda:

„Die ganze Herrlichkeit dieses erhabenen, schöpferischen Pulsschlags (Spanda) des Bewusstseins, dem eine aufleuchtende unvergleichliche Glückseligkeit innewohnt, dessen majestätischer Weg sich zu fernen Dimensionen erstreckt, von der Erde bis zu Shiva empor, … von dessen Ausdehnung dieses Universum nur ein winziger Teil ist.“

Solche Aussagen über die Entstehung und Beschaffenheit des Universums aus Schwingungsenergie weisen eine erstaunliche Übereinstimmung mit unseren modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auf. Insbesondere in Hinblick auf die Quanten-Physik. Bereits in den siebziger Jahren schrieb der Physiker Fritjof Capra:

„Die Hochenergie- Streuexperimente der vergangenen Jahrzehnte zeigen uns überzeugend die dynamische und ständig wechselnde Natur der Teilchen. Die Materie erschien in diesen Versuchen als völlig wandelbar. Alle Teilchen können in andere Teilchen umgewandelt werden; sie können aus Energie entstehen und zu Energie zerfallen. In dieser Welt haben klassische Begriffe wie „Elementarteilchen“, „materielle Substanz“ oder „isoliertes Objekt“ ihre Bedeutung verloren. Das ganze Universum erscheint als dynamisches Gewebe von untrennbaren Energiestrukturen. ...

In der modernen Physik hat Masse keine materielle Substanz mehr, und man ist daher nicht mehr der Ansicht, dass Teilchen aus irgendeinem Grundstoff bestehen, sondern sie sind Energiebündel. ... Diese dynamischen Strukturen oder Energiebündel bilden die stabilen nuklearen, atomaren und molekularen Strukturen, die die Materie aufbauen und ihr den Anschein geben, als bestünde sie aus einer festen materiellen Substanz.“3

Das hört sich sehr wissenschaftlich und abgehoben an – so als hätte es mit uns persönlich und unserem alltäglichen Leben nichts zu tun. Doch da irren wir uns. Im Gegensatz zur modernen Naturwissenschaft, befasst sich der Yoga nicht oder zumindest in weitaus geringerem Maße mit „der Welt da draußen“. Wenn uns die Philosophen des „Yoga von Kashmir“ auf den Spanda hinweisen und ihn uns erklären, dann hauptsächlich mit Hinblick auf „die Welt hier drinnen“, die Welt in unserem Inneren.

Erinnern wir uns, was ich am Anfang dieses Artikels schrieb? „Die höchste Erfahrung ist also immer da. Sie umgibt uns, durchdringt uns. Wir SIND es. Wir erkennen es allerdings nicht, weil wir sozusagen in die falsche Richtung blicken.“ Was sich ereignet, wenn wir den Spanda – das Pulsieren des Höchsten Bewusstseins – in uns und als uns wahrnehmen, beschreibt auf wunderbare Weise der berühmte Sufi-Mystiker Dschalal ad-Din Rumi in einem seiner unsterblichen Gedichte:

 

Oh Tulpe, komm und erkenne aus meinem Gesicht das Fest der Farben.

Oh Venus, komme und lerne von meinem Herzen den Klang der Harfe.

Wenn der Ton des Einsseins zu erklingen beginnt,

oh Schicksal von Millionen Lebenszeiten –

komm und lerne sein Lied!

 

 

 

 

1 Natürlich erfahren wir auch Spanda wenn uns die vollkommen entgegengesetzten Empfindungen „plagen“… aber davon später.

2Auch Lalleshvari oder einfach Lalli genannt.

3 Fritjof Capra, Das Tao der Physik, Bern 1986 (engl. Originalausgabe 1975), S. 80 / 202.

 

 

(Fortsetzung folgt...)