Momo und Der Yoga des Zuhörens

10.12.2014

 

Momo und Der Yoga des Zuhörens

 

Wie war das doch gleich? - Auf dem Weg des Yoga kommt es nicht so sehr darauf an, w a s wir tun, sondern w i e wir es tun. Letztendlich kann daher so ziemlich alles, was wir im täglichen Leben unternehmen, eine Übung im Sinne einer spirituellen Yoga-Praktik sein. Im Prinzip birgt also jeder Moment unseres Lebens das Potential einer Schulung in sich, die uns auf unserem Weg zu höherer Entwicklung weiter bringt. Es geht folglich nicht so sehr darum, „Yoga zu machen“, als viel mehr darum „den Moment des Yoga zu erkennen und zu nutzen“. Die Voraussetzung hierfür ist, d a s s wir diese Momente erkennen.

Bei vielen Ereignissen ist Yoga drin - obwohl Yoga gar nicht drauf steht. Nehmen wir einmal eine Tätigkeit, die wir am Tage bestimmt viele Male „praktizieren“, und die auf unterschiedlichen Ebenen durchaus das Potential einer Yoga-Übung enthält: Das Zuhören. Schauen wir uns zunächst das Wort Zuhören einmal genau an. Grammatikalisch betrachtet handelt es sich hierbei um ein Nomen, das unmittelbar einem Verb entstammt – wir tun also etwas. Doch bei genauerer Betrachtung geht es – ganz im Sinne des Yoga – gar nicht um ein Tun oder Machen, sondern um ein Lassen. Wenn wir gute Zuhörer sind, können wir beim Zuhören etwas zulassen, nämlich die Worte des Anderen, des Gegenüber. Wir wissen jedoch alle, dass dies gar nicht so einfach ist. Weshalb manche gar von der „Kunst des Zuhörens“ sprechen. Denn – mal ehrlich – wann hören wir schon mal bewusst zu?

Die meiste Zeit hören wir eigentlich nur uns selbst zu – unserem inneren und äußeren Geblubber. Wann jedoch unseren Kindern, unseren Eltern, unseren Nachbarn, unseren Freunden, unseren Kollegen, unseren Bekannten? Oder gar unseren Lebenspartnern? Eine Binsenweisheit besagt: In vielen partnerschaftlichen Beziehungen zeigt sich der Anfang vom Ende darin, dass sich die beiden nicht mehr zu hören. Sie reden vielleicht noch miteinander, aber sie hören sich nicht wirklich – also mit Interesse und innerer Anteilnahme – zu. Dem anderen wirklich zuzuhören, bedeutet der Welt ein wahres Geschenk zu machen. Doch können wir dieses Geschenk erst machen, wenn wir bereit sind, uns zu öffnen und den anderen anzunehmen. Häufig ist das Gegenteil der Fall. Und wie heißt es so schön: Wer seine Ohren verschließt, verschließt damit auch sein Herz.

Zuhören ist also in der Tat eine große Kunst – ein großer Yoga-Weg. Wenn wir diesen beginnen bewusst zu praktizieren, werden wir sehr bald bemerken, dass er gar nicht so leicht zu erlernen und/oder zu praktizieren ist. Denn unser Ego hat die Tendenz dazwischen zu gehen, zu unterbrechen. Es mag nun mal nicht still sein. Es hat ja so viel zu erzählen. Und das macht Krach. Doch Zuhören setzt Stille, wahre innere Stille, voraus und – im wörtlichsten Sinne – Zurück-Nahme. An dieser Stelle fällt mir der Sanskrit-Begriff pratyahara ein, der den fünften Aspekt der acht Stufen des Ashtanga Yoga bezeichnet. Klassischerweise ist dabei das Zurückhalten oder Zurücknehmen der fünf Sinne gemeint. Doch so yogisch-technisch müssen wir gar nicht werden. Pratyahara meint das Zurücknehmen der Sinne, und dazu müssen wir uns nicht mit verschlossenen Augen im Lotos-Sitz verharrend in tiefer Meditation befinden. Wenn ich im Alltag bewusst und gezielt meinen Ich-Sinn, meine Ich-Bezogenheit, zurück-nehme, um meinem Gesprächspartner zuhören zu können, praktiziere ich Pratyahara – praktiziere ich Yoga. Und was dann auf einer anderen inneren Ebene geschieht ist etwas Wunderbares: Das Gegenüber kann in den sich nun öffnenden, freien Raum treten, sich darin entfalten und den Raum mit seinem Anliegen beleben. Nun kann der Keim des Vertrauens aufgehen und wachsen.

Durch unsere innere Zurücknahme entsteht jedoch nicht nur ein idealer „Gesprächs-Raum“. Sie ermöglicht uns auch die Worte des Gegenüber ohne oder wenigstens mit verminderter Einfärbung – also Verfälschung durch unsere hinzukommenden, eigenen Gedanken und Gefühle – wahrzunehmen. Ich möchte das an einem fiktiven Beispiel erläutern, das allerdings meiner Erfahrung als Fachlehrer an einer Gesamtschule nach durchaus im Bereich des Möglichen liegt -

Nehmen wir einmal an, dass ich einem Vierzehnjährigen zuhöre, der mir erzählt, dass er sauer auf seine Eltern ist, weil er um 22.00 Uhr zuhause sein soll, und dass er mir des weiteren gesagt hat, sie seien „altmodische Idioten“, und dass er dann bis drei Uhr weggeblieben sei. Während ich dieser Geschichte lausche, gehen mir vielleicht Gedanken wie die folgenden durch den Kopf: „Wenn er seine Eltern beschimpft, werden die ihn gerade länger raus lassen.“ „Vom Entwicklungsstandpunkt her gesehen ist es eine unreife und unproduktive Art, mit Wut umzugehen, wenn man bis drei Uhr wegbleibt. Usw., usw., usw. …...“.

Wenn mir solche bewertenden Gedanken durch den Kopf gehen, dann entstammen sie meinem Inneren, meinem Bezugsrahmen, meinem begrenzten und begrenzenden Ego-Ich. Und diese Gedanken stören das Gespräch erheblich. Sie stören: 1. weil es schwierig ist, gleichzeitig zuzuhören und zu verstehen – während ich noch über die erste Aussage des Sprechers nachdenke, fällt es mir schwer, die nächste aufzunehmen; 2. weil eine solche Bewertung leicht zu vorschnellen Schlüssen führen kann.

Die meisten von uns finden es ziemlich schwierig, den eigenen Bezugsrahmen – das Ego-Ich oder den Ahamkara, wie die Yoga-Philosophen das nennen – auszuklammern und Geschichten und Ereignisse aus der Perspektive des Anderen zu hören. Wir sind es gewohnt, alles, was andere uns erzählen, durch unsere eigenen Erfahrungen und Überzeugung zu filtern. Das jedoch schränkt unsere Wahrnehmung und – was im Yoga als so wichtig erachtet wird – unsere Unterscheidungsfähigkeit (Skt. Viveka) erheblich ein. Darüber hinaus realisieren wir etwas ganz Entscheidendes überhaupt nicht: Dass der, dem wir Zuhören – der Andere – gar kein Anderer ist.

Mittlerweile mag sich der eine oder andere Leser bereits gefragt haben, was es denn mit dem weltbekannten Namen „Momo“ im Titel dieses Beitrags auf sich hat. Nun, die Auflösung dieses Rätsels folgt sogleich. Es gibt eine kleine anrührende Textpassage, die uns so einiges über die „Kunst des Zuhörens“ lehrt, und die uns zeigt, wie sehr wahres Zuhören mit Hingabe, Achtung und Liebe zu tun hat. Diese Textpassage, die so treffend zum vorliegenden Thema passt, fand ich vor vielen Jahren in Michael Endes weltberühmtem Roman „Momo“:

„So kam es dass Momo sehr viel Besuch hatte. Man sah fast immer jemand bei ihr sitzen, der angelegentlich mit ihr redete. Und wer sie brauchte und nicht kommen konnte, schickte nach ihr, um sie zu holen. Und wer noch nicht gemerkt hatte, dass er sie brauchte, zu dem sagten die andern: ‚Geh doch zu Momo!’

Dieser Satz wurde nach und nach zu einer feststehenden Redensart bei den Leuten der näheren Umgebung. So wie man sagt: ‚Alles Gute!’ oder ‚Gesegnete Mahlzeit!’ oder ‚Weiß der liebe Himmel!’ genauso sagte man also bei allen möglichen Gelegenheiten: ‚Geh doch zu Momo!’

Aber warum? War Momo vielleicht so unglaublich klug, dass sie jedem Menschen einen guten Rat geben konnte? Fand sie immer die richtigen Worte, wenn jemand Trost brauchte? Konnte sie weise und gerechte Urteile fällen?

Nein, das alles konnte Momo ebenso wenig wie jedes andere Kind. Konnte Momo dann vielleicht irgendetwas, das die Leute in gute Laune versetzte? Konnte sie zum Beispiel besonders schön singen? Oder konnte sie irgendein Instrument spielen? Oder konnte sie – weil sie doch in einer Art Zirkus wohnte – am Ende gar tanzen oder akrobatische Kunststücke vorführen?

Nein, das war es auch nicht.

Konnte sie vielleicht zaubern? Wusste sie irgendeinen geheimnisvollen Spruch, mit dem man alle Sorgen und Nöte vertreiben konnte? Konnte sie aus der Hand lesen oder sonst wie die Zukunft voraussagen? – Nichts von alledem.

Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.

Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanke kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.

Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf –und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.

So konnte Momo zuhören!“1

 

1Michael Ende, Momo – Die seltsame Geschichte von den Zeitdieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Stuttgart 1973, S. 14-16.