Nicht ums Suchen geht es im Yoga - sondern ums Finden

04.01.2015

 

Nicht ums Suchen geht es im Yoga - sondern ums Finden


Suchen ergibt einen Sinn, wenn man etwas nicht hat, wenn es einem an irgendetwas mangelt oder wenn man etwas verloren hat. Das jedoch ist genau betrachtet bei der spirituellen Suche gar nicht der Fall. Alles, was wir uns im Leben wünschen – Glück, Liebe, Freude, Geborgenheit – ist bereits alles erreicht. So sagen es uns seit Urzeiten diejenigen, die es wissen müssen – die großen Weisen und spirituellen Meister. Sogar die Erkenntnis und Erfahrung des Höchsten sei immer in uns. Wir müssten also eigentlich nicht suchen – wir müssten es lediglich erkennen, es wahrnehmen. Einer der wohl bekannteste Dichter-Heiligen und spirituellen Meister des indischen Mittelalters – Kabir – hat es in einem seiner Gedichte folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

„Ich lache, wenn ich höre, dass den Fisch dürstet im Wasser.“

Hier offenbart sich nach meinem Empfinden eines der größten Mysterium dieser Welt: Es ist bereits alles erreicht, und dennoch – die spirituellen Meister Indiens sagen uns, der „Göttlichen Komödie“ oder des „Göttlichen Spiels“ wegen, wie es in Indien genannt wird – müssen wir uns auf den Weg machen, um zu suchen und schließlich zu „finden“, was nie verloren ging. Nach unserem menschlichen Verständnis, ein Paradox. Um dieses Paradox näher zu erklären, gebrauchte ein spiritueller Meister einmal eine metaphorische Geschichte, das Gleichnis von „Der verloren Halskette“:

-- Eine Frau lief eines Tages aufgelöst herum und beklagte, dass sie ihre wertvolle Halskette nicht finden könne und vermutlich irgendwo verlegt oder gar verloren habe. Sie bat also alle aus ihrer Familie und ihrem Freundeskreis ihr beim Suchen zu helfen. Und bald liefen tatsächlich alle aufgeregt herum und suchten in allen Winkeln des Hauses, Gartens und der Nachbarschaft nach der Halskette. Doch die Halskette blieb wundersamerweise verschwunden. Resigniert und erschöpft setzte sich die Frau in ihrem Wohnzimmer nieder. Dabei fasst sie sich beiläufig an den Hals –- und ihr entfuhr ein Schrei – „die Kette, da ist sie ja!“ Die Halskette war die ganze Zeit da gewesen! --

Aber es gibt noch andere Gründe dafür, warum wir das, was offensichtlich ist, nicht erkennen. Nach Auffassung der alten Weisen und Meister des Yoga sind wir nicht wach, ist unsere Wahrnehmung nicht klar, sondern getrübt, geradezu verzerrt. Wir lassen uns, so sagen sie, von unserem Geist bzw. Verstand – mit all den von ihm produzierten Vorstellungen, Phantasien und Konzepten – ablenken und in die Irre führen. Dies betrifft nicht nur unsere Wahrnehmung von den Dingen in der Welt da draußen, sondern – was noch viel folgenreicher ist – unsere Wahrnehmung und Erkenntnis über uns selbst.

Wie dies geschieht, mit welchen Mitteln unser Geist, ein williger Verbündeter von Maya, der Macht der Illusion – in Indien traditionellerweise als Göttin dargestellt – uns immer wieder verwirrt, möchte ich an einer kleinen, bekannten Geschichte erläutern. Diese Geschichte aus dem Devi Bhagavata Purana, die in den Yoga-Kreisen Indiens immer wieder gerne erzählt wird, handelt von Narada, dem Weisen und „guten Freund“ und Boten Gottes (Vishnu)“.

Eines Tages ging Narada zu Vishnu, dem Herrscher über die Welt, und fragte:

„Oh Herr, wer ist diese Göttin Maya? Man erzählt von ihrer ungeheuren Macht.Und, sag mir, wie schafft sie es, die Menschen so lange Zeit zu verwirren?“

„Nun,“ sprach Vishnu, „das ist nicht so leicht zu erklären. Ihre Macht ist in der Tat erstaunlich und im Reich meiner Schöpfung gibt es niemanden, der es mit ihr aufnehmen könnte.“

„Das kann ich nicht glauben“, erwiderte Narada, „ein so großer Weiser wie ich wird sich ganz sicherlich nicht hinters Licht führen lassen. Dennoch, erkläre mir bitte, worin ihre Macht besteht“.

„Das werde ich tun“, sprach Vishnu, „doch bevor wir beginnen, geh' hinunter zur Erde und bring' mir ein wenig Wasser hinauf.“

Narada wunderte sich ob dieses Auftrags, tat jedoch, wie ihm geheißen wurde. Und mit seinen Siddhis, seinen übernatürlichen Kräften, stand er in wenigen Augenblicken in der Welt der Menschen, auf der Erde, an einem großen Fluss.

Hier nun schöpfte er etwas Wasser und wollte sich mit dem gefüllten Gefäß gerade auf den Rückweg machen … da erblickte er in seiner unmittelbaren Nähe eine wunderschöne Frau. Als sie ihn anschaute stieg ein mächtiges Gefühl in ihm auf, dass er noch nie empfunden hatte. Narada war verliebt! Er ging zu ihr und offensichtlich fand auch sie Gefallen an ihm. Sie verbrachten den ganzen Tag miteinander, und als es Abend wurde, bat Narada diese wunderschöne Frau, ihn zu heiraten. Sie willigte ein, und schon bald ereignete sich die Hochzeit. Sie bekamen Kinder und Narada baute ein Haus am Ufer des Flusses. Die Zeit verging und auch die Kinder Naradas hatten Kinder. Nichts, so dachte er, könne sein Glück jemals trüben. Narada hatte seinen Auftrag vollkommen vergessen.

Eines Tages jedoch wurde der Himmel dunkel, und ein großes Unwetter zog herauf. Es regnete viele tagelang. Der Fluss schwoll an trat über die Ufer und überschwemmte die gesamte Gegend. Alle Häuser wurden davon getragen und Naradas gesamte Familie ertrank. Er selbst wurde ebenfalls von den reißenden Fluten davon mitgerissen, und als er eben im Begriff war zu ertrinken, schrie er um sein Leben: „Hiilfeee, oh Herr hilf mir!“

Im gleichen Augenblick verschwand die gesamte Szene vor seinen Augen, als hätte es sie nie gegeben – und er hörte diese ihm wohl bekannte Stimme: „NARADA, WO BLEIBT MEIN WASSER!“

Maya und die Macht des Geistes hatten auch Narada verwirrt und hinters Licht geführt. Narada, so will uns die Geschichte sagen, erging es so, wie uns allen: Er vergaß sich selbst – seine wahre Natur. Indem sie uns vergessen lassen, wo wir uns selbst finden, führen uns unser Ego, unsere Sinne, unsere Gedanken und Gefühle tatsächlich hinters Licht. Dann fangen wie an zu suchen …. im Dunkeln, obwohl das Licht in gewisser Weise hell leuchtet. Denn das Licht ist immer da. Wir selbst sind es. Wir sind das Licht, das wir suchen. Ein alter, weiser Spruch lautet: Der den du suchst, ist der der sucht. Aber warum erkennen wir das nicht? Warum finden wir nicht sogleich?

Diese Frage – Warum erkenne ich nicht in diesem Augenblick, warum finde ich nicht hier und jetzt? - ist uralt. So alt, wie auch die Antwort: Weil Du nicht da hin schaust, wo das Gesuchte - oder besser Zufindende - ist: nach innen. In unserem Inneren ist es – doch wir suchen dort draußen. Unser Geist bzw. Verstand ist ein Illusionist. Er beherrscht als Verbündeter Mayas unsere Welt. Er führt uns die ganze Zeit dieses Theater vor und sagt: „Da draußen ist das Glück, die Liebe, die Erfüllung, die du suchst. Geh' und du wirst es sicherlich irgendwann dort finden, irgendwann...“ Und dort suchen wir heute noch.

Uns kommt keinen Augenblick auch nur der Gedanke, dass das was wir suchen, vielleicht schon die ganze Zeit da ist, wenn wir endlich einmal in die andere, in die entgegengesetzte Richtung schauen würden. Der Trick – ja geradezu das Meisterstück – des Geistes war und ist es, uns glauben zu lassen, dass das, was wir suchen, weit, weit weg ist. Und so suchen wir seit Urzeiten dort draußen, in der falschen Richtung: im Nicht-Hier, Nicht-Jetzt. Jedes Mal, wenn wir so denken und entsprechend leben und handeln, halten wir die Vorstellung am Leben: „Ich habe (oder bin) es immer noch nicht – ich muss weiter suchen. Und mein Weg zu meinem Ziel ist noch weit". All das ist genau betrachtet ein Umweg – wenn auch ein oftmals notwendiger.

Die alten indischen Meister des vedischen Zeitalters wurden Rishis genannt, wörtlich „Seher“, weil sie in der Tat sehend waren. Weil sie die Wahrheit sahen, nämlich dass der Mensch eine vollkommene Offenbarung Gottes bzw. des Göttlichen ist. Sie waren (oder sind) Seher, weil sie sahen, erkannten, dass es in dieser Welt nichts anderes, als dieses Eine, Höchste, Vollkommene, gibt und der Mensch in seinem Inneren identisch ist mit dieser Vollkommenheit.

Shri Ramakrishna, einer der bedeutendsten indischen Heiligen und tantrischen Meister des 19. Jahrhunderts, erklärte einmal, dass er die Körper der Menschen wie Tücher erfahre, unter denen sich niemand anders als Gott befände, der diese Tücher gleichsam wie mit Stöcken bewegt und ihnen damit Leben einhaucht.

Die meisten von uns sind vermutlich keine Seher. Das heißt aber nicht, dass wir blind wären. Eigentlich sind wir gar nicht blind für die eigene Vollkommenheit. Wir besitzen hier und jetzt alle die Fähigkeit unsere höhere und höchste Natur wahrzunehmen. Aber wir erkennen es nicht – weil wir davon ausgehen, dass das Gesuchte so weit weg ist. Würden wir dort hinschauen oder hingehen wo es ist, dann würden wir uns wahrscheinlich wundern, dass wir jemals mit einer Suche begonnen haben – übrigens eine Erfahrung, die viele Weise und Heilige nach eigenem Bekunden im Augenblick ihres Höchsten Findens gemacht haben. Nachdem sie es im Inneren fanden erkannten sie es schließlich auch im Äußeren - in jedem Wesen, in jedem Ding, in jedem Augenblick.

Egal wie wir es nennen – die Höchste Liebe, die Höchste Erfahrung, das Höchste Bewusstsein, die Höchste Gottheit – ES war immer schon da. Wir müssen ES nur wahrnehmen, in uns und als uns. Gemäß den Lehren der Yoga-Meister gibt es nichts zu suchen. ES GIBT NUR ETWAS ZU FINDEN.

Wir kennen vermutlich alle die berühmte Figur des „Kleinen Tiger“ von JANOSCH. In der uns allen bekannte Geschichte „Oh wie schön ist Panama“ gehen der kleine Bär und der kleine Tiger los, um, wie sie wörtlich sagen „PILZE ZU FINDEN“ – sie müssen nie suchen ...