Tantra und Christentum - Angelus Silesius

08.10.2015

 

Tantra und Christentum - Angelus Silesius


„Dann wird das Blei zu Gold, dann fällt der Zufall hin.
Wenn ich mit Gott durch Gott in Gott verwandelt bin.“

 

Manch einer mag sich sogleich fragen „Was ist das für ein komischer Titel – Tantra und Christentum?“ - „Die beiden haben doch nun wirklich nichts gemeinsam.“ - „Und, wer ist überhaupt dieser Angelus Silesius?“. Klären wir alles gleich. Doch vielleicht sollten wir uns zu allererst und in aller Kürze einmal anschauen, was denn die grundsätzlichen Lehren des Tantra, beziehungsweise der Tantrischen Tradition sind – weil zum Thema "Tantra" ja so einiges in unseren Köpfen herum schwirrt, was mit Tantra nicht wirklich etwas zu tun hat.


Na shivam vidyate kvachit heißt es in einem der bedeutendsten tantrischen Werke, dem Svacchanda Tantra - „Nichts existiert, das nicht Shiva ist“. Ein denkwürdiger Satz, einer der großartigsten Sätze, die ich je gehört oder gelesen habe. Denn damit ist eigentlich schon alles über die Lehre des Tantra gesagt. Ein wenig ausführlicher: "Die Welt ist ihrem Wesen nach Gott". Unsere übliche Wahrnehmung oder Vorstellung ist allerdings eine andere. Der Mensch, die Welt, Gott – all das ist für uns getrennt und von einander verschieden. Die Yogis, Heiligen und Tantriker sagen uns hingegen: Das ist alles Eins. Es gibt keinen Gott, der jenseits von dieser Welt zu suchen wäre, weil er sich da vielleicht irgendwo im Verborgenen versteckt hält... Gott bzw. das Göttliche ist offenbar, erkennbar, erfahrbar. Spiritualität als Gegensatz zu Weltlichkeit ist daher falsch und unsinnig. Diese Trennung mag zwar Bestandteil vieler religiöser Vorstellungen und Konzepte sein. Mit der „Realität“ hat es nach tantrischer Auffassung nichts zu tun. Der oben zitierte Lehrsatz aus dem Svacchanda Tantra - „Nichts existiert, das nicht Shiva ist“ - lehrt uns, dass es in Wirklichkeit nur diese alles umfassende Einheit gibt, die einige als „Gott“ bezeichnen, andere als „Höchstes Selbst“ (Paramatman), wieder andere als „Göttliches Bewusstsein“, oder wie auch immer. Ein Merksatz, der mir und vielen anderen auf den Weg gegeben wurde, fasst all dies in den folgenden wunderbaren Worten zusammen: „Gott lebt in Dir als Du“.

Was hat das nun alles mit diesem Angelus Silesius zu tun? Während meines Studiums erwähnte unser Hindi-Professor diesen Namen eines Tages -  Angelus Silesius - und berichtete uns ein wenig über seine Werke und die innere und äußere Übereinstimmung dieser Werke mit denen des indischen Dichters und Heiligen Kabir (zu jener Zeit übersetzten wir Original-Gedichte Kabirs aus dem Alt-Hindi ins Deutsche). Das, was ich über Angelus Silesius hörte, weckte mein Interesse, und so bin ich der Sache weiter nachgegangen. Damals gab es noch kein Internet. Man musste sich also ein richtiges Buch kaufen oder ausleihen und dieses auch richtig lesen. Das war zu der Zeit so üblich... Was ich beim Lesen dieses Buches - der "Cherubinische Wandersmann" - entdeckte, erstaunte und berührte mich sehr: Ich fand die tantrischen Lehren im Kleid christlicher Worte.

Hier nun einiges zu seiner Person und seinen Werken:

Angelus Silesius, der schlesische Engel, wie er sich später nach seiner Konversion zum Katholizismus nennt, wird im Dezember 1624 als Johann Scheffler in Breslau geboren. Mit 18 Jahren geht er nach Straßburg, um dort - wie zuvor Vater und Großvater - Medizin zu studieren. Ein Jahr später setzt er sein Studium im holländischen Leiden fort, wo der Student religiöse Zirkel kennenlernt, die mystisches Gedankengut sammeln und verbreiten. Unter anderem die Kopien des berühmten Görlitzer Mystikers Jakob Böhme .Johannes Scheffler sieht in dem verstorbenen Böhme seinen spirituellen Meister.

Der Student schließt seine Studien in Padua ab, wo er 1648 den Doktortitel der Medizin und Philosophie erhält. Geprägt durch die Erfahrung des italienischen Katholizismus und die Mystik des Jakob Böhme kehrt Scheffler nach Schlesien zurück. Er wird mit noch nicht einmal 25 Jahren zum fürstlichen Leib- und Hofmedicus ernannt. Kurz nach seiner Rückkehr aus Padua freundet er sich mit dem Mystiker und Böhme-Schüler Abraham von Franckenberg an. Dieser wird zu seinem Förderer und führt ihn tiefer in das Denken Böhmes und anderer Mystiker ein. Später nennt er als Vorbilder neben Jakob Böhme unter anderem Meister Eckhart, Mechthild von Magdeburg und Johannes vom Kreuz.

Als unmittelbaren Ausdruck seiner spirituellen Erfahrungen verfasst er die "geistreichen Sinn- und Schlussreime", wie er sie zuerst nennt und die heute als "Cherubinischer Wandermann" zur Weltliteratur zählen. Interessant ist die Entstehung dieses Werkes, denn wie Jakob Böhme, so erlebt auch Scheffler sie als plötzlichen Zustrom höheren Bewusstseins – als ein Herabfließen des schöpferischen Geistes. In einem Schaffensrausch von nur vier Tagen bringt er das erste Buch des "Cherubinischen Wandersmann" zustande. Fünf weitere folgten. Damalige Kirchenfromme, wie auch die kirchliche Obrigkeit sahen in seinen Werken und Aussagen zur Identität des Menschen mit Gott ketzerische Blasphemie, wohingegen andere sie als Ausdruck einer unmittelbaren kosmischen Verbindung Schefflers mit dem Göttlichen geradezu verehrten.

Seine Sprache sei „paradox“ - so das Urteil vieler Wissenschaftler und (christlicher) Kenner von Schefflers Werken. Er verwende Paradoxien, um das Unaussprechliche auszudrücken. Mag sein. Ich jedoch glaube, dass er GENAU DAS beschreibt, was er erfahren hat. Denn die Ausdrucksweise ist der der tantrischen Mystiker sehr ähnlich, die ganz offen auch in ihren Lehren – anders als im Christentum – von der Identität und Einheit des Menschen ALS Gott sprechen. Ich behaupte nicht, dass Johann Scheffler alias Angelus Silesius ein Tantriker im wörtlichen Sinne war. Doch kann man – wenn man seine Werke aufmerksam liest und in sich nachhallen lässt – regelrecht spüren, dass die spirituellen Erfahrungen, die ihnen zugrunde liegen, mit den Erfahrungen der tantrischen Mystiker identisch waren. Daher findet man in seinen Werken durchaus die Lehren und auch den Geist des Tantra. Hier nun einige der mir liebsten Verse aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ -


Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht einen Augenblick kann leben:
Werd ich zunicht, er muss von Not den Geist aufgeben.


Dass Gott so selig ist und lebet ohn Verlangen, hat er sowohl von mir, als ich von ihm empfangen.


Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.


Gott ist in mir das Feur und ich in ihm der Schein: Sind wir einander nicht ganz inniglich gemein?


Ich selbst bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlasse, und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.


Ich bin so reich als Gott: Es kann kein Stäublein sein, das ich – Mensch, glaube mir! - mit ihm nicht hab gemein.


Ich auch bin Gottes Sohn! Ich sitz an seiner Hand: Sein Geist, sein Fleisch und Blut ist ihm an mir bekannt.


Mensch, wo du noch was bist, was weißt, was liebst und hast, so bist du – glaube mir – nicht ledig deiner Last.


Gott ist ein lauter Nichts. Ihn rührt kein Nun noch Hier. Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.


Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verlohrn.


Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht. Wer es nicht selber wird, der sieht ihn ewig nicht.


Eh ich noch etwas ward, da war ich Gottes Leben: Drum hat er auch für mich sich ganz und gar gegeben.


Wer mir Vollkommenheit – wie Gott hat – ab will sprechen, der müsste mich zuvor von seinem Weinstock brechen.


Halt an! Wo laufst du hin? Der Himmel ist in dir! Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.


Nicht du bist in dem Ort, der Ort der ist in dir! Wirfst du ihn aus, so steht die Ewigkeit schon hier.


Dann wird das Blei zu Gold, dann fällt der Zufall hin. Wenn ich mit Gott durch Gott in Gott verwandelt bin.