SHIVA – widersprüchlich, vielfältig und rätselhaft, wie das Leben selbst 1 (3)

28.03.2016

 

SHIVA widersprüchlich, vielfältig und rätselhaft, wie das Leben selbst 1 (3)

 

Unser Bild von Gott oder dem Göttlichen hat natürlich immer etwas mit uns selbst zu tun - „Nenn mir deinen Gott oder deine Göttin, und ich sag' dir wer du bist“. Viele Gottheiten – ob männlich oder weiblich – sind in ihrer Darstellung so, wie wir uns selbst, oder unser Leben, gerne hätten. Im Christentum etwa spricht man vom „lieben Gott“ (obgleich der im Alten Testament alles andere als das ist). Schaut man sich die Situation innerhalb des sogenannten „Hinduismus“ an, dann ist das hier nicht viel anders – mit einer Ausnahme. EINE Gottheit nämlich fällt da ziemlich raus – SHIVA. So heißt es in Indien im Zusammenhang mit ihm beispielsweise: „Vishnu ist so, wie wir das Leben gerne hätten – Shiva ist so, wie das Leben eben ist!“

Möglicherweise war es der lebensbejahende und lebensnahe – vielleicht auch der freche und zuweilen, pardon, „dreiste“ – Charakter dieses Gottes in den alten indischen Geschichten und Erzählungen (Purana), der mich von Anfang an für ihn fasziniert hat. Weshalb ich mich nicht nur privat, sondern auch später im Studium, in meiner Forschung und schließlich auch in meinen Abschlussprüfungen ganz und gar auf ihn ausrichtete. Für mich persönlich hatte und hat er einfach etwas, was alle anderen nicht haben. Und was das im Einzelnen ist, beziehungsweise was das alles umfasst, möchte ich nachfolgend ausführlich erläutern.

Shiva – so heißt es in hiesigen Yoga-Kreisen häufig – sei der „Zerstörer“. Wenn man ihn nur als Bestandteil der Götter-Trinität „Brahma-Vishnu-Shiva“ (Schöpfer-Erhalter-Zerstörer) auffasst, dann mag man das so betrachten. Aber, so mein ehemaliger Lehrer, Promotions-Prüfer und Chef: „Diese Reduzierung auf den zerstörerischen Aspekt ist fehlerhaft, denn er hat ebenso bewahrende, teilweise versüßlichte Aspekte“ (Zitat, Prof. Dr. Michaels, Universität Heidelberg)1.

Shiva ist nicht eine der vielen indischen Götter. Er ist die indische Hochgottheit. Shiva ist daher gegensätzlich, ja geradezu paradox – so wie unser Leben, so wie diese Welt, in der wir uns befinden. Shiva vereinigt in sich alles, was wir im und am Leben mögen, aber auch alles, was wir nicht mögen, was uns Angst macht. Er verkörpert alle Gegensätze, Zufälligkeiten, Möglichkeiten und Zwangsläufigkeiten – denn er ist ja ALLES: Beschaulichkeit, Ruhe, Gleichmut – aber auch Kampf, Bewegung, Erregung, Wachstum und Zerstörung. Er ist als Ardhanar-Ishwara (wörtlich: 'der Herr, der halb Frau ist') das männliche Element wie auch das weibliche.

Lebensbejahend ist Shiva als Gott der Zeugung und der im Phallus (Lingam) symbolisierten Zeugungskraft, mit dem Stier Nandin als Reittier bzw. Gefährt. Er lebt mit seiner Gattin Parvati auf dem Berg Kailas. Demgegenüber ist Shiva als Asket, als Herr der Yogis (Yogishwara) und Herr des Yoga schlechthin (Yogeshwara) mit Asche beschmiert, trägt um den Hals eine Kette aus Menschenschädeln und eine lebende Kobra. Zu diesem Aspekt des Weltentsagers gehört, dass er meditierend in völliger Abgeschiedenheit – im Wald oder auf den Bergen - auf einem Tigerfell sitzt, oder sich mit seinen Heerscharen von Dämonen und Geistern auf den Verbrennungsplätzen herum treibt.

Shiva vereinigt in sich Lebenszu-und-Abgewandheit – und zwar in Gestalt eines äußerst exzentrischen Individualisten. Wie bereits gesagt: Shiva repräsentiert nicht das Leben, wie man es sich wünscht, sondern wie es erfahren wird – in all seiner Unberechenbarkeit, Ungerechtigkeit, mit all den oftmals erfahrenen Härten und Schicksalsschlägen. Shiva ist die Verkörperung der allgegenwärtigen und allem zugrunde liegenden Polarität des Lebens, des Universums.

Shivas „Herkunft“ - zumindest aus religiosgeschichtlicher Sicht – steht in engem Zusammenhang mit der vedischen oder gar vorvedischen Gottheit Rudra. Shiva hat vieles von Rudra in sich aufgenommen. Und da das vedische Sanskrit-Wort rudra in etwa mit „furchtbar, schrecklich“ übersetzt werden kann, wird bereits deutlich, dass hier andere Eigenschaften und Aspekte im Vordergrund stehen, als zum Beispiel bei Vishnu. Die von Rudra übernommenen Charaktere machen Shiva zum Außenseiter. Insbesondere innerhalb des vedischen Rituals, wo er als unreiner Gott geltend gebeten wird, sich wieder zu entfernen - obwohl er gleichzeitig unendlich wichtig für die Teilnehmer des Rituals ist. Er ist der gefürchtete mächtige und unheimliche Exzentriker und Individualist unter den vedischen Göttern. Dennoch, oder gerade deshalb – nämlich um ihn zu besänftigen – wird dieser Gott im Veda (genauer gesagt im Shatarudriya, "hundert Rudra geweihte Verse", auch Rudram genannt, einer äußerst starken, kraftvollen Hymne des Yajur Veda) mit dem euphemistischen Namen „Shiva“ (wörtlich: liebevoll, freundlich) angerufen.

Doch Shiva ist noch viel mehr als das. Was sich beispielsweise auch an einer hoch komplexen Philosophie zeigt, in deren Zentrum er steht. Es handelt sich nach meiner Auffassung um die Yoga-Tantra-Philosophie schlechthin. Davon im zweiten Teil dieser Serie über „Aspekte Shivas“ mehr …

 

Shatarudriya-Rezitation:

https://www.youtube.com/watch?v=H4hLtzCeVds

 

Shatarudriya-Deutschübersetzung

http://www.pushpak.de/shri_rudram/

 

 

1Aus Prof. Michaels Vorlesung (WS 1999/2000): „Coincidentia oppositorum – Shiva und die Mytho-Logik“.