SHAKTIPAT - Das Geheimnis der vollkommenen Kundalini-Erweckung 1 (4)

20.04.2015

 

SHAKTIPAT - Das Geheimnis der vollkommenen Kundalini-Erweckung 1 (4)

 

Der Begriff "Kundalini-Erweckung" ist in einschlägigen Yoga-Kreisen in aller Munde. Aber wie fand dieses Ereignis zu früheren Zeiten (und auch noch heute) statt? Wie erlangten die Yogis diesen über alles ersehnten Moment? Klassischerweise geschah dies eben nicht ausschließlich durch eigenes Bemühen - weil das nach expliziter Auffassung der Tantras gar nicht möglich ist. ---- Hiermit beginne ich eine neue kleine Serie über die - selbst in den eingeschworenen Yoga-Kreisen Indiens - seit Urzeiten als geheimnisvoll und selten erachtete göttliche Einweihung durch die Kraftübertragung vom Meister auf den Schüler/die Schülerin - genannt Śaktipāt. Durch diese in den alten Tantras als höchste Form der Einweihung beschriebene Kraftübertragung erweckt der Meister die Kundalini sicher und nachhaltig und leitet fortan den Prozess des Aufstiegs bzw. der Entfaltung von innen heraus - selbst wenn er physisch diese Welt bereits verlassen hat. Die Macht und die Liebe des Gurus bleiben für immer beim Schüler, bis er oder sie selbst zu höchster Vollkommenheit aufgestiegen ist. Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus meinem "Großen Kundalini-Buch".

 

--- Ein weiteres typisches Beispiel für eine Śaktipāt-Dīkā findet man in der Initiation des berühmten Swami Vivekananda durch seinen Guru Ramakrishna, wiedergegeben in Christopher Isherwoods bekannter Ramakrishna-Biographie:

„Nachdem ich viele Leute nach dem Weg gefragte hatte, erreichte ich schließlich Dakshineshwar und ging unverzüglich zum Zimmer des Meisters. Ich fand ihn, tief in Meditation, auf dem kleineren Bett sitzend, das neben dem größeren steht. Es war niemand bei ihm. Sobald er mich sah, rief er mich freudig zu sich und hieß mich an dem einen Ende des Bettes Platz zu nehmen. Er war in einer sonderbaren Stimmung. Er murmelte irgendetwas zu sich selbst, das ich nicht verstehen konnte, schaute mich streng an, stand dann auf und kam auf mich zu. Ich dachte, wir würden gleich wieder eine verrückte Szene erleben. Kaum war mir dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, als er seinen rechten Fuß auf meinen Körper setzte. Sofort hatte ich ein wunderbares Erlebnis. Meine Augen waren weit geöffnet, und ich sah, dass alles in dem Raum, einschließlich der Wände, schnell herumwirbelte und verschwand. Und gleichzeitig schien es mir, dass mein Bewusstsein von mir selbst zusammen mit dem gesamten Universum, sich aufzulösen begann, in eine weite, alles verschlingende Leere. Diese Zerstörung des Bewusstseins von mir selbst schien mir das selbe wie der Tod zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass der Tod direkt vor mir stand, sehr nahe. Unfähig mich zu beherrschen schrie ich laut: „Oh, was machst Du mit mir? Weißt du nicht, dass ich Eltern zu Hause habe?“ Als der Meister das hörte, lachte er laut. Dann, meine Brust mit seiner Hand berührend, sagte er: „Also gut – lass es uns jetzt beenden. Es muss nicht alles auf einmal getan werden. Es wird alles zu seiner Zeit geschehen.“ Zu meinem Erstaunen, verschwand diese außergewöhnlich Vision genauso plötzlich, wie sie gekommen war. Ich kehrte zu meinem normalen Zustand zurück und sah die Dinge innerhalb und außerhalb des Raumes so fest und unverändert wie zuvor. --- Obwohl es soviel Zeit in Anspruch genommen hat, all das zu beschreiben, geschah es tatsächlich in nur wenigen Augenblicken. Und dennoch veränderte es mein Denken völlig. Ich war verwirrt und versuchte ständig zu analysieren, was sich da zugetragen hatte. Ich hatte gesehen, wie diese Erfahrung begann und endete in Übereinstimmung mit dem Willen dieses außergewöhnlichen Mannes.“1

Hier bekommen wir Einblick in das Phänomen der Śaktipāt-Initiation, insbesondere in das für den Schüler bzw. die Schülerin nicht zu unterschätzende Moment des unmittelbaren Erlebens: Im Augenblick der Initiation vermittelt der Guru eine direkte Erfahrung des Absoluten und dadurch einen Ausblick auf das Ziel. Dies ist entscheidend für den Schüler, denn nun kennt er die Richtung. Er hat zum ersten mal das Ziel konkret gesehen, wenn auch nur – wie zumindest in den meisten Fällen – für nur wenige Augenblicke. Ein solches Erlebnis schafft nicht nur Orientierung, sondern auch Vertrauen in den Weg, den man anschließend geht, und in sich selbst. Es ist u.a. auch deshalb ein so mächtiges und hinsichtlich seines spirituellen Wertes mit nichts zu vergleichendes Ereignis, weil nach yogischem Verständnis hier das Göttliche selbst interveniert, weshalb Agehananda Bharati schreibt:

„Wann immer eine plötzliche Verwirklichung des höchsten spirituellen Objekts erlangt wird, geht man davon aus, dass eine Śāṃbhavī-Dīkṣā („Initiation durch Śiva selbst“) stattgefunden hat.“2

Über diesen in den allermeisten Fällen von einem vollkommenen Meister bewirkten, alles entscheidenden Schritt in der spirituellen Entwicklung eines Menschen schreibt R.M. Steinmann: "Die verschiedenen formellen und informellen Dīkā-Formen, in welchen der Sādhaka Śakti-pāta, den 'Niedergang der Śakti', erfährt, sind ein machtvolles Mittel des Gurus, um in diesem eine allmähliche geistige Transformation zu bewirken."3

Doch welcher Guru vermag ein solches Ereignis herbei zu führen, bei dem der Schüler das Höchste unmittelbar erfahren kann – nicht irgendwann, sondern jetzt und hier? Es ist wohl ein wichtiger Teil der großen Prüfung, die an den Schüler gerichtet ist, genau dies heraus zu finden. Denn leider sind hierzu nur ganz wenige Gurus imstande, wie wir z.B. aus Lākhoā (3. 3ab), wörtl. „Versiegelter Brief“4, einem bemerkenswerten Yogatext der Nāthyogis, erfahren:

cākhavitā viruā bahutāmājī yeka

„Einer, der schmecken lässt, ist selten, einer unter vielen.“

Ein derartiger Guru wird als Moka-Guru bezeichnet, da er in der Lage ist Befreiung (Skt. Moka) zu gewähren. Nur er (oder sie) ist auch nach Auffassung des Viveka-Darpaa (14. 1) „der wahre Guru (Sadguru)“. An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, dass das Amt eines solchen Gurus, das u.a. eben darin besteht Śaktipāt zu geben und den Schüler das Höchste „schmecken zu lassen“, ein vollkommener und befreiter Yogi von seinem Guru direkt übertragen bekommen muss. Einzig diese direkte Bestimmung zur Nachfolge - die wir übrigens auch in der christlichen Tradition kennen, denken wir an den bekannten, an Petrus gerichteten Ausspruch von Jesus „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ (Math. 16. 18) - gilt bei den tantrischen Traditionen als Legitimation zur Guruschaft. Es gibt im Tantrismus (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) keine selbsternannten Gurus, man muss ernannt und dazu gemacht werden.

Tatsache ist, dass es zu allen Zeiten und in allen spirituell-geistigen Traditionen solche Meister gab, die mit dieser Art Einweihung vertraut waren. Nehmen wir das Beispiel einer der berühmtesten Persönlichkeiten des alten Griechenlands – Sokrates (469-399 v. Chr.). Er war, wie so viele seiner „Kollegen“ (z.B. Thales, Pythagoras, Heraklit, Parmenides, usw.), nicht nur Philosoph und/oder Naturwissenschaftler – worauf die moderne Wissenschaft solche Persönlichkeiten gerne reduziert. Abgesehen von seinen handwerklichen Fähigkeiten (sein eigentlicher Beruf war Bildhauer) werden ihm noch ganz andere Befähigungen nachgesagt. So schreibt D.L. Tiede in seiner Dissertation an der Harvard Universität über „Die charismatische Persönlichkeit als Wundertäter“ (Titel wurde von mir aus dem Englischen übersetzt):

„Das daimonion5 von Sokrates war noch für einen anderen hellenistischen Schreiber von besonderer Faszination, dem Autor des pseudo-platonischen Dialogs Theages. . . . Dieser Schreiber stellt die spirituelle Kraft/Macht Sokrates’ in einer solchen Weise dar, dass das daimonion als eine übernatürliche, gar magische Funktion seiner Persönlichkeit erscheint, die auf geheimnisvolle Weise seine Begleiter beeinflusst. . . . Darüber hinaus [wirkt] diese Kraft/Macht wie ein magisches Mana . . . und nimmt durch Sokrates’ Anwesenheit quantitativ zu, insbesondere durch seine Berührung (Theages 130 E).“6

Was genau ein indischer Sadguru „macht“, wenn er oder sie Śaktipāt erteilt, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Auch wenn uns daher die Informationen aus erster Hand nicht zugänglich sind, so ist doch in den Tantras dargelegt, auf welche Art und Weise die Übertragung der Kraft geschieht. In Kulārava Tantra 14. 34 werden drei Arten dieser Initiation beschrieben: Initiation durch Berührung (Sparśa), durch den Blick (Dksajñā) und durch den Gedanken (Mānasa). In Übereinstimmung mit diesem Tantra heißt es in Siddha Siddha Siddhānta Paddhati 5. 697:

„Deshalb wird in der Lehre der großen Siddhas verkündet: Wer mittels bloßer Rede, des bloßen Blickes, oder rechten Gnadenwillens wiederholt im selben Augenblick in den Zustand der inneren Stille führt, der ist ein wahrer Guru.“8

Ähnlich heißt es bei der bekannten indischen Heiligen und Mystikerin Ānandamāyī Mā (1896 – 1982):

„Es gibt verschiedene Arten der Initiation: durch Mantra, durch Berührung, durch einen Blick, durch Unterweisung. Der Kontakt mit einem hochentwickelten Menschen hat fürwahr eine Auswirkung. Jeder wird entsprechend seiner eigenen Empfänglichkeit und Aufrichtigkeit Nutzen daraus ziehen. Es existiert auch so etwas, wie besondere Gnade, durch welche ungewöhnliche Kraft zur weiteren Entwicklung erlangt wird. . . . Bei Mantra Dīkshā wird das Mantra in das Ohr des Schülers geflüstert, und der Initiator wird soviel Kraft übertragen, wie er selbst besitzt. Wenn er allmächtig ist, wird er den Schüler durch seine bloße Berührung oder bloßen Blick zum letzten Ziel bringen. . . . Derjenige, von dem du Initiation erhälst, wird dich mit den Ebenen in Verbindung bringen, die er selbst erreicht hat. Es verhält sich wie beim Anhören eines religiösen Vortrags: der Sprecher wird den Zuhörer so viel vermitteln, wie in seiner Macht steht. Dabei gibt es zwei Faktoren: die Kraft, die den Worten der Wahrheit innewohnt, und die Macht des Sprechers. Beide werden empfangen, und wenn der Empfänger ein außergewöhnliches Fassungsvermögen besitzt, so wird ihm das Höchste Wissen im gleichen Moment aufgehen, in dem er die Unterweisung erhält.“9



1 C. Isherwood, Ramakrishna and his Disciples, Calcutta 1994, S. 197.

2 Agehananda Bharati, The Tantric Tradition. London 1992, S. 157.

3 R.M. Steinmann, Guru-Śiṣya-Sambandha. Stuttgart 1986, S. 103.

4 Dieses in der mittelalterlichen, indischen Sprache Alt-Marathi verfasste Werk wurde von meiner Doktormutter Catharina Kiehnle im Rahmen ihrer Habilitationsarbeit ausführlich untersucht und kommentiert.

5 Das altgiechische Wort daimonion hat im Laufe der Zeit einen bemerkenswerten Bedeutungswandel erfahren. Ursprünglich, noch zu Sokrates’ Zeiten, wurde es im Sinne von „innerer Wesenskern, inneres Ich, unpersönliche Lebenskraft“ gebraucht. Später hatte es die Bedeutung von „innerer Schutzgeist“. Durch den Einfluss des erstarkenden Christentums wurde dieser Begriff schrittweise immer negativer besetzt und daimonion bekam schlussendlich die Beutung von „böser Geist“ – aus daimonion wurde der Dämon. Siehe hierzu A. Bertolet, Wörterbuch der Religionen.

6 David Lenz Tiede, The Charismatic Figure as Miracle Worker, SBL Dissertation Series 1 (Library of Congress Catalog Card No. 72-87359). 1972, S. 35.

7 ebenso in Siddha Siddha Siddhānta Paddhati 5.61-62 und 5. 66-67.

8 Jyotishman Dam, Shiva-Yoga – Indiens großer Yogi Gorakshanatha.München 1998, S. 244-45.

9 Worte der glückseligen MutterĀnandamāyī Mā. Heiligkreuzsteinach 1980, S. 122-123.

 

Teil 2 folgt in Kürze . . . . .