Das Ziel des Yoga: Keine andere Welt, sondern eine andere Sichtweise auf die Welt

30.07.2014

 

Das Ziel des Yoga: Keine andere Welt, sondern eine andere Sichtweise auf die Welt


„Ich sitze hier und betrachte die Welt. Wie ich sie erfahre, so ist sie. Was ich erfahre, ist die Realität“. So denken wir für gewöhnlich, wenn wir über uns selbst und die Welt um uns herum einmal nachdenken. Wir gehen also davon aus, dass es eine hundertprozentige Übereinstimmung zwischen unserer Wahrnehmung und den Ereignissen dort draußen gibt. Uns kommen in den seltensten Fällen Zweifel über unsere "objektive" und "unabhängige" Perspektive. Ganz und gar jenseits unserer Vorstellungskraft ist der Gedanke, dass es eventuell überhaupt keine Zwei gibt. Dass möglicherweise Betrachter und betrachtete Realität – ICH und WELT – in Wahrheit eins sind. Doch genau das sagen die Lehrer und Meister der alten Yoga-Traditionen: „Du bist diese Welt. Du bist die Essenz dieser Welt. Du bist die höchste Realität“.[1] Oder in den unsterblichen Worten der upanishadischen Meister: TAT TVAM ASI – DU BIST DAS.

Was wir seit Urzeiten als unseren „normalen“ Zustand begreifen und erfahren, beruht nach Auffassung der alten Meister auf einer falschen Identität – statt mit dem unendlichen Ozean identifizieren wir uns mit dem Tropfen. Dies führt zu einer Wahrnehmung, bei der wir immer nur Bruchstücke und voneinander isolierte Teile der gesamten Realität, die in Wirklichkeit immer eine integrale Einheit ist, erkennen. Diese begrenzte Wahrnehmung – vor allem die Trennung zwischen dem „Ich“ und der „Welt“ dort draußen – erzeugt bei uns, häufig ohne dass es uns bewusst ist, Unsicherheit, ja sogar Angst. Die Welt ist uns fremd. Wir fühlen uns in ihr nie wirklich zu Hause. Wir fühlen uns unvollkommen. Hier bin ich – dort ist die Welt.

Aufgrund der „Schleier“ oder „verdunkelnden Hüllen“, die unser Bewusstsein umgeben, so sagen uns insbesondere die Philosophen des Yoga und Tantra, fühlen wir uns verschieden und getrennt von dieser Welt. Und noch etwas geschieht – es gehört quasi zu diesem göttlichen Spiel, in dem sich das göttliche Bewusstsein vor sich selbst für eine Weile verbirgt: Bei jedem Individuum entstehen auf der einen Seite Bedürfnisse und Vorlieben und auf der anderen Seite Vermeidungsstrategien, um bestimmten Dingen zu entkommen. In unserem normalen Alltag sind daher unsere Empfindungen wie ein Spielball, der zwischen diesen beiden Kräften hin und her geworfen wird. Dies führt zwangsläufig zu Handlungen, die direkt in die Abhängigkeit führen. Es entsteht die Haltung: „Da ich nicht vollkommen bin, muss ich dieses oder jenes tun bzw. bekommen, um glücklich zu sein. Und ich bin derjenige, der all diese Handlungen ausführt, um sich glücklicher und vollkommener zu fühlen“. Jedes Mal, wenn wir so handeln, nähren und verstärken wir die Vorstellung bzw. Wahrnehmung von „Ich bin nicht vollkommen“. Wir leben also immer aus dem Gefühl und Bewusstsein des Mangels heraus – das genaue Gegenteil, von dem was wahr ist – Purno’Ham, „Ich bin voll-kommen“.

Da unsere Wahrnehmung über uns selbst in dieser Welt so ist, wie gerade beschrieben, kann der Weg aus diesem Dilemma nur durch eben diese Welt - die Schule dieser Welt  - führen. Nur durch die Tür, durch die wir hinein gekommen sind, kommen wir auch wieder heraus – ein uraltes und universales Prinzip. Indem Maße wie sich durch das Lernen in der Welt unsere Wahrnehmung über die Welt ändert, klärt sich auch unsere Wahrnehmung über uns selbst – unsere Identität („Ich bin“).

Unser Weg – das galt für Praktizierende des Yoga und Tantra vor Tausenden von Jahren, das gilt für Praktizierende noch heute – führt nicht durch irgendein „Parallel-Universum“, sondern mitten durch diese unsere Welt. Und das bedeutet ganz praktisch: Solange wir irgendetwas oder irgendjemanden in der Welt zurückweisen, weisen wir einen Teil von uns selbst zurück. Wir müssen folglich diese Welt, mit allem was sich darin befindet, als unser Eigenes, als Manifestation unseres Ichs, erkennen – und entsprechend handeln, um zu unserer umfassenden Identität zurückzukehren.

Wenn wir uns auf die Erfordernisse und Chancen unseres jeweiligen Weges ausrichten – hierbei ist die Unterscheidung in spirituell und weltlich eine Illusion – lernen wir, dass das Innere und das Äußere zwei Aspekte ein und derselben höchsten Realität sind. Indem wir versuchen bei unseren Aktivitäten – am Arbeitsplatz, in der Familie, im Zusammenleben mit unseren Lebenspartnern und Kindern sowie auch allen anderen Menschen – die Verbindung zu unserem inneren Wesen aufrecht zu erhalten, praktizieren wir die höchste Form des Yoga.

Jeder Augenblick unseres Lebens, so sagen uns die großen spirituellen Lehrmeister seit Urzeiten, ist bereits die Ewigkeit, die wir suchen. Alles ist bereits da, ist vollkommen. Nur wahrnehmen müssen wir es als solches. Vermutlich war es diese Wahrheit oder Erkenntnis, die der große jüdische Religionsphilosoph Martin Buber im Sinn hatte, als er schrieb:

„Wenn Du das Leben heiligst, begegnest Du dem lebendigen Gott.“

Yoga war und ist ohne unser Leben in dieser Welt nicht denkbar und trägt ohne die aktive Auseinandersetzung mit dem, was uns im Leben begegnet, keine Früchte. Eine Spiritualität, die zum Preis der Aufgabe des weltlichen Lebens erkauft werden muss, kann nicht viel wert sein. Wenn wir ernsthaft Yoga praktizieren und somit eine höhere und erweiterte Sichtweise auf unser Leben zulassen – denn es geht nicht darum, irgendetwas aufzugeben, sondern etwas hinzu zu nehmen – lernen wir Schritt für Schritt durch die Auseinandersetzung mit der Welt, dass sie eins ist mit unserem inneren Selbst.


[1]  Jesus sagt in ähnlicher Weise zu seinen Jüngern: „Ihr seid das Salz der Erde… Ihr seid das Licht der Welt“ (Matthäus 5,13.14).

 

Das Themenbild zu diesem Beitrag zeigt das Gemälde von Pieter Brueghel, "Die Kirmes".