Der Yoga von Kashmir -1

14.02.2014

 

Teil 1 – Gott und die Welt ... sind Eins

Gleich das erste Mal, als ich mit dem „Yoga von Kashmir“ in Berührung kam, empfand ich ihn als etwas absolut Außergewöhnliches. Damals hatte ich mich bereits in die verschiedenen indischen Philosophien eingearbeitet und empfand große Hochachtung für sie. Doch die Lehren des Yoga von Kashmir übertrafen alles, was ich bisher gehört und gelesen hatte.

Obwohl der Yoga von Kashmir ein religiös-philosophisches System mit einer ausgearbeiteten Philosophie und hoch entwickelten Mystik, Ästhetik und Psychologie ist, kennt man ihn im Westen – gerade auch in Yogakreisen – kaum. Alle sprechen vom 8-gliedrigen Klassischen Yoga-System oder vom Advaita Vedanta, aber diese Philosophie - der Yoga von Kashmir - kennt kaum jemand. Das mag daran liegen, dass es nicht zu den sechs klassischen Philosophie-Systemen gehört. Vielleicht liegt es aber auch an der unbedingten Radikalität dieses Systems. Aber möglicherweise hat es auch auch damit zu tun, dass der Yoga von Kashmir (YVK) der Tantrischen Tradition zuzurechnen ist, einer Tradition, die aufgrund von Unwissenheit und vielen Missverständnissen in ein falsches Licht geraten ist.

Nun ließe sich viel Interessantes über den YVK sagen, über seine Geschichte, seine unterschiedlichen Schulen und vor allem seine großartigen Meister-Philosophen. Doch möchte ich mit etwas beginnen, was ich von Beginn an als das wirklich Besondere und Einzigartige an dieser philosophischen Tradition empfand: Ihr Angebot an uns, diese Welt, in der wir leben und die uns umgibt, aus einer höheren und umfassenderen Sicht wahrzunehmen und dadurch unser alltägliches Leben als etwas erfahren, das etwas höchst Erhabenes ist – „eine Form des Absoluten Bewusstseins“, wie der YVK es nennt.

Das können wir gut gebrauchen, denn normalerweise ist unsere Sichtweise auf die alltägliche Welt, die wir erfahren, alles andere als erhaben. Wir ertrinken geradezu in den Sorgen und Ängsten des Alltags. All die Geschichten, die sich unser Geist über uns selbst und andere ausdenkt, halten uns reichlich auf Trab. Eigentlich sind wir die ganze Zeit eher mit unserem Überleben als mit Leben befasst.

Aus diesem Druck heraus entschließen wir uns dann vielleicht irgendwann, unser Leben zu ändern. Wir beschäftigen uns mit Spiritualität und fangen eventuell sogar an zu meditieren. Das hilft uns, Kraft und Hoffnung zu schöpfen. Manche beschreiben es auch so – sie sagen, dass sie meditieren, um in der Welt besser bestehen zu können. Und kein Zweifel, es funktioniert. Wir verändern uns, werden häufig feinfühliger und liebevoller uns selbst und anderen gegenüber. Manche erzählen, dass sich auf diese Weise ihr Leben von Grund auf verändert hat und viel erfüllter und glücklicher geworden ist.

Doch laufen wir dabei die ganze Zeit umher und suchen – suchen das Geheimnis, das Verborgene, das weit Entfernte. Denn wir haben diese Trennung im Kopf: Auf der einen Seite unsere Welt, unser Alltag – und auf der anderen Seite das Spirituelle, Heilige, Göttliche. Dieses Bild der Trennung und die dazugehörige Haltung haben wir bereits als Kinder gelernt. Es ist die Lehre vieler Religionen und spiritueller Traditionen: Gott und Welt sind verschieden. Manchmal hat man das Gefühl, die Glaubensgrundlage vieler Religionen sei die Annahme, dass diese Welt zutiefst unheilig ist, so eine Art bedauerlicher kosmischer Fehler, ein fehlgeschlagenes göttliches Experiment, mit uns Menschen als unwilligen und unfähigen Versuchsratten.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir als Jugendliche im Konfirmationsunterricht eine Art Grafik erstellen mussten, die deutlich machen sollte, wie und wann im Zusammenhang biblischer Ereignisse der Mensch sich von Gott entfernt hatte – also angefangen von der Geschichte mit dem geklauten Apfel, dem Turmbau zu Babel, usw. Das Fazit: Guter Gott – böser Mensch. Die beiden sind sich wesensfremd oder haben sich einfach auseinandergelebt - und der Mensch trägt die alleinige Schuld. So etwas hat die gläubigen Menschen hier im Europa des Mittelalters Jahrhundertlang in Atem gehalten - ... also tut mir von ganzem Herzen leid, aber an dieser Stelle musste ich bereits als Kind heftigst widersprechen.

 

(Fortsetzung folgt...)