Der Yoga von Kashmir -2

08.03.2014

 

Teil 2 – Gott und die Welt ... sind Eins

Auch so manche wirklich großartige spirituelle Philosophie Indiens, wie der Advaita Vedanta, lehrt, dass die Welt in Wirklichkeit das Spiel einer trügerischen Macht sei – Maha-Maya. Dieser Lehre zufolge ist das einzig Wahre und Reale nicht diese Welt, sondern das Brahman, das Absolute. Die Welt und das individuelle Ich sind eine Täuschung. Das vom Begründer dieser Lehre am häufigsten verwendete Bild hierbei ist ein Stück Seil, das man in der Dunkelheit fälschlicherweise für eine Schlange hält. Die vermeintliche Schlange, die beim Betrachter die zu erwartende Reaktion auslöst, existiert jedoch nur in dessen getäuschter Sinneswahrnehmung. Sobald das Licht der Erkenntnis (Vidya) aufgeht, verschwindet die Täuschung, deren Ursache die Unwissenheit (Avidya) ist, und das Absolute (Brahman) wird als solches erkannt.

Von „Überdeckung“ ist dabei die Rede: Aufgrund unserer Unwissenheit sehen wir Dualität bzw. Vielheit, wo in Wirklichkeit nur die Einheit des Absoluten ist. Maya, die Zaubermacht oder kosmische Kraft der Illusion – und das ist das eigentlich Entscheidende – verschleiert also die tatsächliche Einheit von Absolutem (Parama-Atman) und individueller Seele (Atman). Allerdings muss der Philosoph Shankara tief in die Trickkiste greifen, um hinsichtlich der Logik und inneren Geschlossenheit seiner Lehre über die Runden zu kommen. Denn was die Maya eigentlich ist, ob "wirklich oder unwirklich", dazu – so der Philosoph Shankara – "lässt sich nichts sagen" (Skt. sad-asad-bhyam anirvacaniya). Anders ausgedrückt: Sie ist weder wirklich noch unwirklich, bzw. sowohl als auch.

Der YVK wählt an dieser Stelle eine radikal andere Vorgehensweise. Während man auf dem Weg des Advaita Vedanta alles ausschließt, um zum Ziel zu gelangen (neti neti – nicht dies, nicht dies), gelangt man auf dem Weg des YVK zum Ziel, indem man alles einschließt (iti iti). Ist, wie wir bereits sahen, die Welt nach Auffassung vieler spiritueller Traditionen etwas, das vom Göttlichen prinzipiell verschieden ist, so lehrt der YVK, dass diese Unterscheidung oder Trennung die einzige und eigentliche Illusion ist. Gott und Mensch, das Absolute und das Universum, sind nach Auffassung des YVK ein und dasselbe – aus verschiedenen Perspektiven betrachtet.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Vertreter dieser philosophisch-spirituellen Lehre auch hinsichtlich der Maya und dem Wert der Schöpfung zu einer anderen – weitaus positiveren – Auffassung gelangen und dem Leben in dieser Welt durchweg bejahend begegnen. Wie ich bereits in meiner Dissertation schrieb (Das Viveka-Darpana S. 86):

„Während der Advaita-Vedanta feststellt, dass diese Maya ein undefinierbares (sadasadbhyam anirvacaniya) Prinzip ist, welches die Illusion der Mannigfaltigkeit entstehen lässt, die fälschlicherweise auf das eine Absolute übertragen wird, ist die Maya gemäß dem Yoga von Kashmir die Macht oder Kraft des Absoluten, mit deren Hilfe es in vielfältiger Form erscheint. Dabei ist die Trennung zwischen Subjekt und Objekt (Ich und Welt) das Produkt eines kreativen (göttlichen) Aktes und nicht der einer Illusion. Ganz im Gegensatz zu den ... dem Advaita-Vedanta zuzuordnenden Ansichten, ist im Yoga von Kashmir die Welt der Erscheinungen ein Aspekt der höchsten Realität, oder wie J.C.Chatterji es formuliert – „Die Erscheinungen (dieser Welt) sind daher nicht der Ausdruck irgendeiner unbeschreibbaren Maya, sondern in ihrer Essenz real’.“

Hört und fühlt sich das nicht ganz anders an, als das, was die meisten anderen Religionen, spirituellen Traditionen und deren Lehren verkünden? Ich meine – ja. Das zentrale Kennzeichen der tantrischen Traditionen allgemein und des YVK im Besonderen besteht in der unbedingten – um nicht zu sagen radikalen – positiven und lebensbejahenden Einstellungen gegenüber allen Aspekten unseres Lebens. So verwundert es nicht, dass auf dem Pfad des YVK alles, was das Leben uns bietet, als Mittel zur Entdeckung des absoluten Bewusstseins Verwendung findet. Die Maxime dieser einzigartigen spirituell-philosophischen Tradition lautet: Da Gott bzw. das Göttliche sich nicht nur in dieser Welt befindet, sondern buchstäblich als diese Welt offenbart, ist er/es folgerichtig auch in ALLEM zu finden - bzw. begegnet uns in allem...auch und ganz besonders in uns selbst.

 

(Fortsetzung folgt...)