GURU - nicht die Person, sondern die Höchste Kraft

12.07.2014

 

GURU - nicht die Person, sondern die Höchste Kraft

 

Es gibt im Yoga einen Lehrspruch, der deutlich macht, worum es bei dem Begriff GURU eigentlich geht: "Guru ist nicht die Vyakti, sondern die Shakti". Vyakti bedeutet „das, was offenbar ist“ und bezieht sich hier auf den Menschen oder die Person des Guru. Das Individuum "Guru" ist also nicht das Entscheidende, sondern die „segenspendende Kraft“, die durch ihn oder sie wirksam ist. Diese segenspendende Kraft des Göttlichen wird in den Traditionen des Yoga Anugraha genannt. Der Guru ist also die Verkörperung der Segenskraft - Anugraha.

Der Segens- oder Gnadensgedanke ist ein sehr alter und existiert seit Urzeiten als Bestandteil aller Religionen und geistig-spirituellen Traditionen. Jesus Christus, um ein Beispiel zu gebrauchen, dass weitgehend bekannt ist, ist von seiner Funktion und seinem Wirken her ein Paradebeispiel für die Verkörperung des Guru-Prinzips. Das wird erkennbar in solch grundlegenden Aussagen wie:

Johannes 14.5 -„Jesus spricht zu ihm (Thomas): Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“

Johannes 10.9 - Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden.

Matthäus 11.27 - „Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und niemand kennet den Sohn denn nur der Vater; und niemand kennet den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren.“

Auch im Yoga und Tantra gehen die Lehrer und Meister davon aus, dass der Mensch auf seinem individuellen Evolutionsweg unbedingt der Segenskraft oder Gnade des höchsten Bewusstseins bedarf, um zur Erkenntnis und Erfahrung seiner wahren Identität - des höchsten Selbsts - zu gelangen. Diese Segenskraft bzw. Gnade (Anugraha) ist es, was in den Yoga-Traditionen mit Guru gemeint ist. Guru ist daher in erster Linie kein Mensch, sondern eben diese Segenskraft, die  sich für den Suchenden und Praktizierenden offenbart und wirksam wird --- manchmal auch in der Gestalt eines Menschen, eben dem, den man Guru nennt --- immer jedoch in Form des inneren Guru. Daher heißt eine der bekanntesten Definition über den Guru (Shri Malini Vijaya Tantra):

Gururva parameshvari anugrahika shaktih

Guru ist die segensspendende Kraft/Macht Gottes“

In seiner Übersetzung und Bearbeitung des grundlegendsten und umfassendsten Werkes der Nathyogis bzw. Nathsiddhas, der Siddha Siddhanta Paddhati (abgekürzt SSP), schreibt Jyotishman Dam :

„Dies alles (‚der Vorgang der Verwirklichung des höchsten Bewusstseins’) wird durch die Gnade Gottes bewirkt oder zumindest begründet. Die Gnade Gottes wirkt durch den Guru (SSP 5.4 und 5.65). Der Guru ist die Ursache für die Erkenntnis des Göttlichen: ‚Gurur evatra karanam...’ (SSP 5.6). Ohne diese Gnade ist kein spiritueller Erfolg möglich, nicht einmal über die hohe Meditation über die Einheit der Einzelseele mit dem Brahman (SSP 5.32) Für den Yoga der Siddha Siddhanta Paddhati gilt, was in der Shivasutra-Vimarshini des Kshemaraja gesagt wird: Gurur-upaya , ‚Der Guru ist das Mittel (zum Heil)“. 74

Zusammengefasst heißt das: Guru ist nicht in erster Linie eine Person, die unseren individuellen Evolutionsprozess von außen lenkt und leitet. Denn im Wesentlichen kommt die unterstützende Kraft bei diesem Prozess gar nicht von außen, sondern von innen - sollte es da einen Unterschied geben. Guru ist ein kosmisches Prinzip. Dieses Guru-Prinzip ist die aufstrebende Kundalini-Shakti. Was im Yoga und Tantra Guru genannt wird, ist ein Aspekt unseres inneres Selbsts. Die Führung und Leitung durch den Guru, der einem als Mensch begegnet und leitet, ist daher weniger ein äußerer Akt der Gnade - auch wenn es so erscheinen mag, bzw. so erfahren wird - sondern geschieht hauptsächlich im Inneren des Betreffenden.

Der menschliche Guru, so könnte man sagen, ist das allumfassende, göttliche Guru-Prinzip, das sich in einem bzw. als ein Mensch manifestiert, um auf der jeweiligen Ebene des Seins und Bewusstseins zu wirken und in angemessener Form das Individuum zu erreichen – um es zur höchsten Vollkommenheit und absoluten Befreiung zu führen.

 


74 Jyotishman Dam, Shiva-Yoga – Indiens großer Yogi Gorakshanatha. München 1998, S. 202.